Wenn eine Pyramide zu Staub zerfällt

■ Die Demontage des Nachwuchssports in der DDR

PRESS-SCHLAG

Das Geheimnis der Einer-nach-dem-anderen-Erfolge des DDR -Sports war in einer Pyramide versteckt. Darin lag der Schlüssel zu einem System der Suche und Förderung körperkultureller Talente, eine Leistungspyramide eben. Ganz unten die erste Stufe, Trainingszentren genannt. Von 23.000 bis 25.000 Kindern, die dort mit dem Sport begannen, schafften 2.500 den Sprung in die zweite Ebene: die Kinder -und Jugendsportschulen (KJS). Darüber lagen die Sportclubs als medaillenträchtige Spitze der Pyramide. So war es in der alten DDR. Und es war nicht schlecht, wie ein Blick in freilich fragwürdige Länderwertungen beweist.

Aber gerade diese Tabellen werden uns in Zukunft mit Abwärts-Purzelbäumen des deutschen Sports erfreuen. Denn von der ehemals erfolgversprechenden Leistungspyramide ist nichts mehr übrig. Die Zerstörung des DDR-Sports erfaßt alle drei beschriebenen Stufen. Von der totalen Kurzsichtigkeit der deutschen Sportstrategen zeugt jedoch besonders der komplette Abbau des KJS-Systems. Für sportliche Talentschulen ist in gesamtdeutschen Sportkonzepten kein Platz mehr. Olympia soll nach Berlin geholt werden. Aber wenn jetzt keine jungen Athleten gesichtet und gefördert werden, wird es später kaum deutsche Medaillenhoffnungen geben. Auch schön - wird der Rest der Welt sagen. Analysen von Leipziger Sportwissenschaftlern belegen nämlich, daß gerade die Kinder- und Jugendsportschulen für den überraschenden Aufstieg des DDR-Sports Ende der 60er/Anfang der 70erJahre verantwortlich waren.

Andere Länder haben das längst erkannt und kopieren fleißig und erfolgreich. In Frankreich gibt es 323 Sportklassen mit etwa 3.500 Kindern. Die Anzahl soll in drei Jahren verdreifacht und auf 28 Sportarten ausgedehnt werden. In Großbritannien werden 30 Sportarten in 80 Leistungszentren trainiert. Vom Fördersystem sind ungefähr eine Million Kinder erfaßt. Und in China üben zwei Millionen junge Sportler in 3.000 Kinder- und Jugendsportschulen. Allein in Peking zählt man 100 Sportinternate.

Nur die Ost-Deutschen bauen gründlich ab. Begründet wird die Schließung der Schulen mit zu hohen Kosten für den Staat und zu großen Strapazen für die Sportler. Wahr ist, daß nur 41 Prozent der ehemaligen KJS-Schüler ihre sportliche Entwicklung noch einmal so wählen würden. Aber ist das in anderen ähnlich leistungsorientierten Bereichen nicht genauso? Die Kosten wiederum teilten sich früher Volksbildung und Sportorganisation. Zur Schule gehen mußten die Kinder ja sowieso, also kann man diese Kosten nicht einfach der Sportförderung zurechnen.

Der Andrang von Kindern an die Jugend- und Sportschulen war nach der Wende so groß wie nie zuvor. Den Eltern schien es eine sinnvolle und kontrollierte Freizeitbeschäftigung für ihre Sprößlinge. Selbst der Kanurennsport als trainingsintensivste und strapaziöseste Sportart war völlig überlaufen. Umsonst. Die Schulen schließen.

Damit vergeben die Deutschen auch auf diesem Gebiet die Chance, wirklich Neues zu entwickeln. Warum vereint man nicht die Sportbegabten mit den künstlerischen Nachwuchshoffnungen in allgemeinen Talentschulen? In der freien Zeit nach dem Unterricht kann das Violinsolo genauso wie die Riesenfelge geübt werden. Und dem Sport würde man endlich seinen gebührenden Platz zuweisen: als ganz normaler Teil der menschlichen Kultur, den man mehr oder weniger intensiv betreiben kann. Körperkultur eben.

Hagen Boßdorf