„Vielleicht sterben wir alle an Krebs“

■ Kinder aus der Gegend von Tschernobyl für vier Wochen zu Besuch in Schwanewede

Ihre zarten Hände greifen nach beigefarbenen Seilen, von rückwärts springt sie mit einem eleganten Hüpfer auf das Sitzbrett. Noch einmal stoppen die Beine kurz, dann folgt ein kräftiger Sprung nach hinten. Ihr Oberkörper schnellt zurück, die Beine fliegen hoch in die Luft. Gelenkig beugt sie sich vor und zurück, einmal, zweimal höher und höher. Da ist es auch schon, dieses angenehme Kribbeln im Bauch. Endlich schaukeln können, ohne Ende...

Hier ist es anders als zu Hause. Niemand, der vor der strahlenden Sonne warnt oder zurück in den Schatten ruft. Sie fühlt sich unbeschwert, wunderbar leicht, ohne Sorgen. Für ein paar herrliche Sekunden ist die Angst vor der unbegreiflichen, unbekannten Krankheit vergessen. Vergessen beinahe auch die Eltern, die in Iwanowa leben, einer kleinen Belorussischen Stadt, 300 Kilometer entfernt von Tschernobyl.

Das Mädchen mit dem langen Zopf und den blauen Trainingshosen heißt Aljona und ist 13. Ihre Familie, dazu gehören noch vier kleinere Geschwister, hat nicht genug Geld, um Aljona raus aus dem verseuchten Gebiet auf Erhohlungsreise zu schicken. So wurde sie zusammen mit neun anderen Kindern von der „Energie- und Umweltgruppe“ Neuenkirchen/Schwanewede eingeladen.

Gleich hinter der Bremer Landesgrenze, in einem idylisch gelegenen Haus im Wald, erholen sich seit dem 5. August die zwei Jungen und acht Mädchen aus Iwanowa, einer 60.000 Seelen-Stadt, unweit von Bresk, an der russisch-polnischen Grenze. Das

Haus im „Düngel„wurde von der Paul-Gerhardt-Gemeinde kostenlos zur Verfügung gestellt. Hier sollen die Kinder wenigstens vier Wochen lang unbeschwert leben, Säfte trinken und viel, viel Obst essen.

„Bei uns sind die Äpfel alle verseucht“, erzählt der 12jährige Sascha, „man muß sie x-Mal waschen. Sogar Fische darf man nicht fangen“. Saschas Augen sind traurig, als er sich an zu Hause erinnert. Er schaut ernst vor sich hin. „Als es endlich einmal Wassermelonen gab, hat Vater nur eine einzige mitgebracht und gesagt, daß man keine mehr essen darf. Überhaupt bringt er nur noch wenig mit nach Hause,

weil alles verseucht ist“.

Auch die 14jährige Natascha begreift schon, was bei ihnen in Iwanowa los ist, und daß man Niemandem trauen kann. „Wir wissen ja nicht genau, ob die Lebensmittel verseucht sind oder überprüft wurden und essen das, was es gibt“, sagt sie und lächelt hilflos. „Jeder hat doch kein Dosimeter, wie sollen wir das denn überprüfen.“ Ihre großen dunklen Augen füllen sich mit Tränen. „Du bringst das Obst an einen Ort, da sagt man dir das, woanders erzählt man dir was anderes. Wem soll ich denn glauben?“

Die Unsicherheit der Kinder ist groß. Aber auch die Erwachsenen haben ihre Probleme zu begrei

fen, was das ist - Radioaktivität. „Wir fühlen ja noch nichts“, versucht Raissa Solowjowa, eine der beiden russischen Betreuerinnen, zu erklären. „Vielleicht sterben wir alle an Krebs oder Leukämie. Aber heute merken wir noch nichts davon“. Das sei zumindest einer der Gründe, warum die meisten in den Katastrophengebieten bleiben.

Bei der Explosion des Reaktors am 26. April 1986, lebten dort rund 60.000 Kinder. Viele von ihnen waren kurz nach der Havarie großen Strahlendosen ausgesetzt. Sieben Tonnen spaltbares Material mit einer Radioaktivität von 50-100 Millionen Curie wurden an einem einzigen Tag in die At

mosphäre geschleudert. Die Folgen: Kaum eines dieser Kinder ist gesund. Immer häufiger treten Augenerkrankungen, wie der graue Starr, Geschwülste an Lippen, Mundhöhle, Speiseröhre und Magen, Bluterkrankungen, wie Anämien und Leberstörungen sowie Krebserkrankungen und der Zusammenbruch des gesamten Immunsystems auf. Auch über Mißbildungen an neugeborenen Kindern gibt es inzwischen zahlreiche Berichte.

Ebenso schwerwiegend sind die psychischen Auswirkungen. Viele Kinder haben Angst vor ihrer Zukunft, das kleinste Wehwehchen löst Panik aus. Deshalb sei es so entscheidend, meint Raissa, daß die Kinder hier in Bremen einmal richtig untersucht werden. „Ich glaube, wenn sie nach Hause fahren und der Arzt hat nichts Besonderes gefunden, sind sie beruhigter. Sie werden weniger an eine mögliche Krankheit denken und selbstsicherer in die Zukunft blicken“.

Inzwischen sind im „Düngel“ Wolken herangezogen. Wind peitscht durch die hohen Tannen und Lerchen, die das Grundstück säumen. Als es dann zehn Minuten später wie aus tausend Eimern gießt, liegen die weißen Bälle noch immer über den Rasen verstreut. Die Kinder rennen laut kreischend zwischen den beiden Schlaf- und Aufenthatsräumen hin und her. Immer wieder fliegen Türen krachend zu. Sascha hat mit seinem neuen Walkman die sowjetische Hymne aufgenommen. Im Takt marschiert er durch den Eßraum. Unser Gespräch von vorhin scheint vergessen...

Birgit Ziegenhagen