„Zieh deine Spikes an“

■ Beim Berliner ISTAF verriet Merlene Ottey aus Jamaika das Geheimnis ihrer Leistungsexplosion Christine Wachtel (DDR) lief einen Quasi-Weltrekord und Arturo Barrios stand im Regen

Aus Berlin Matti Lieske

Seine beiden „Hasen“, Steve Plasencia und Are Nakkim, waren längst unter der Dusche, als Igel Arturo Barrios aus Mexiko immer noch hurtig seine Runden im Berliner Olympiastadion lief. Unter den tosenden Anfeuerungsrufen des Publikums kämpfte er sich mit geballter Energie voran, obwohl er längst wußte, daß es mit dem angestrebten Weltrekord über die 10.000 Meter diesmal nichts würde. Im vergangenen Jahr hatte er die Bestmarke an gleicher Stelle auf 27:08,23 Minuten geschraubt, jetzt kam er rund zehn Sekunden später ins Ziel. Wind und Regen hatten Barrios einen Strich durch die Rechnung gemacht, und bis auf weiteres wird er daher mit seinem alten Auto vorliebnehmen müssen. Die Blechkiste, die der neue Hauptsponsor des Berliner ISTAF - nein, es handelt sich nicht um einen Trabant - für eventuelle Weltrekorde in Aussicht gestellt hatte, ging ihm vorläufig durch die Lappen. Eine Athletin verließ aber trotz der nicht optimalen Bedingungen frisch motorisiert das Olympiastadion, wenngleich es um ihren Quasi-Weltrekord über 1.000 Meter jede Menge Verwirrung gab: Christine Wachtel aus der DDR. Gemeinsam mit ihrer Landsfrau Sigrun Wodars war sie der Rumänin Doina Melinte davongerannt und nach genau 2:30,67 Minuten im Ziel angekommen. „Weltrekord“, schrie der Stadionsprecher, doch die Statistik widersprach. Da war nämlich als Weltrekordhalterin eine gewisse Tatjana Prowidochina aus der UdSSR vermerkt.

Die war 1978 2:30,6 Minuten gelaufen, handgestoppt allerdings, und lange Zeit vom Internationalen Leichtathletik-Verband (IAAF) nicht anerkannt. Es gab einiges hin und her, bis IAAF-Beobachter Richard Hymans schließlich ein Machtwort sprach: kein Weltrekord. Der neue Sponsor mochte sich bei seinem ersten Auftritt jedoch nicht knauserig zeigen, ignorierte die offizielle Entscheidung und die glückliche Christine Wachtel durfte im funkelnagelneuen Gefährt nach Dresden zu den letzten DDR-Meisterschaften düsen.

Noch glücklicher war Veranstalter Rudi Thiel, der glaubt, in Gestalt der Firma VW nun den Stein der Weisen gefunden zu haben, welcher ihn endlich von der ungeliebten Abhängigkeit vom Berliner Senat befreit. Jahr für Jahr hatte es heftige Polemiken um die Höhe der Senatsbürgschaft gegeben, die dann auch fast immer voll ausgeschöpft wurde, in Zukunft hofft Thiel, diese nur bei Wetterkatastrophen in Anspruch nehmen zu müssen. Die kurzfristigen Absagen solch teurer Leute wie Carl Lewis, Randy Barnes und Ana Quirot linderten diesmal das Defizit, obwohl die Zuschauerzahl weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Auf 50.000 Zuschauer hatte Thiel gehofft, aber trotz des tagsüber guten Wetters kamen nur 32.000, genausoviel wie im letzten Jahr. Der erwartete Ansturm der Besucher aus der DDR fand nicht statt, das vielgerühmte neue Umland verweigerte sich glatt. Zwei Jahre nach Seoul haben die Namen der aktuellen Stars der Leichtathletik wie Burrell, Ottey, Everett offensichtlich längst noch nicht die Zugkraft solcher Publikumsmagneten wie Carl Lewis, Edwin Moses, Florence Griffith-Joyner oder Said Aouita.

Dabei boten sie durchaus Ansehnliches. Es gab ISTAF-Rekorde von Danny Everett über 400 Meter (44,61), Heike Drechsler im Weitsprung (7,01 Meter) und vor allem Merlene Ottey über 100 Meter (10,82). Seit die 30jährige Jamaikanerin in Rom beim Sprintcoach des italienischen Teams Plinio Cartucci trainiert, hat sie sich mächtig verbessert. Amüsiert berichtet sie von ihrem anfänglichen Zorn auf den neuen Betreuer, der anstatt der gewohnten Langläufe gleich mit Sprinttraining und Kraftübungen zur Steigerung der Schnellkraft begonnen habe. „Du kannst doch nicht alles ändern, was ich zehn Jahre lang gemacht habe“, habe sie ihm vorgehalten. „Zieh deine Spikes an“, sei die lakonische Antwort gewesen. „Es war schwierig, aber es hat sich gelohnt“, findet Merlene Ottey heute und kündigt große Taten für das nächste Jahr an, wenn sie den Weltrekorden von Florence Griffith-Joyner über 100 und 200 Meter zu Leibe rücken will.

Als Verlierer fühlte sich bereits Leroy Burrell, der derzeit beste Sprinter der Welt. Mark Witherspoon, wie Burrell vom berühmten kalifornischen Santa Monica Track Club, war als vermeintlicher Gewinner des 100-Meter-Laufes schon mit dem Blumenstrauß auf und davon, da enthüllte die Video-Wiederholung, daß es der schläfrig gestartete Burrell doch noch geschafft hatte, das Rennen in 10,17 Sekunden für sich zu entscheiden. Mit der ihm eigenen Spritzigkeit eilte er Witherspoon nach, welcher ihn mit den Worten: „Hier sind die Blumen, gratuliere“ empfing und zum Trost die Ehrenrunde mitlaufen durfte. Munterer wurde Burrell erst, als er gefragt wurde, was er denn von Carl Lewis, dem Topstar seines Clubs, alles lernen könne. Von Lewis lerne er gar nichts, war die leicht bissige Antwort, er lerne höchstens von seinem Trainer. Das Erfolgsgeheimnis von Santa Monica sei nicht Carl Lewis, sondern die optimale Ausstattung, das Klima, die hervorragenden Trainer und der gegenseitige Ansporn bei so vielen großartigen Läufern. Mit dem Rennen von Berlin war Leroy Burrell trotz der schlechten Zeit zufrieden. Er sei müde gewesen; dennoch gewonnen zu haben, sei eine äußerst wertvolle Erfahrung.

„Nicht zufrieden, aber auch nicht unzufrieden“, war DDR -Sportpolitiker Ulf Timmermann, der das Kugelstoßen mit 21,35 Metern gewann. „Eine solche Weite wird bei der EM in Split nicht reichen“, fürchtet Timmermann und kündigte an, daß er in der verbleibenden Zeit noch an seiner Technik feilen werde. „Ich lebe ja hauptsächlich von der Technik“, erklärte der hünenhafte Olympiasieger und schaute milde auf die im Presseraum versammelte Schmächtigkeit tief unter ihm herab: „Ich bin ja kein Kraftprotz.“

Männer: Hammerwurf: Juri Sedych (UdSSR) 81,50 Meter, 110 m Hürden: 1. Tony Dees (USA) 13,29, 2. Roger Kingdom (USA) 13,29; 400 m Hürden: Winthrop Graham (Jamaika) 48,52 Sek.; 200 m: Robson da Silva (Brasilien) 20,28; 800 m: Johnny Gray (USA) 1:45,57 Min.; Dreisprung: Volker Mai (DDR) 16,94 Meter; Speerwerfen: Peter Blank (BRD) 73,82 Meter; Weitsprung: Jaime Jefferson (Kuba) 7,92 Meter; 3.000 m Hindernis: Patrick Sang (Kenia) 8:16,58, Meile: Simon Doyle (Australien) 3:53,31. Stabhochsprung und Hochsprung mußten wegen Regens abgebrochen werden.

Frauen: 100 m Hürden: Monique Ewanje-Epee (Frankreich) 12,79; Speerwerfen: Petra Felke (DDR) 65,76 Meter; Hochsprung: Heike Henkel (BRD) 1,98 Meter.

DDR-Meisterschaften in Dresden, Frauen:

100 m: Kerstin Behrendt 11,17, 200 m: Katrin Krabbe 22,35; 400 m Hürden: Heike Meißner 57,05, 400 m: Grit Breuer 50,68; 3.000 m: Kathrin Ullrich 9:00,37; Weitsprung: Heike Drechsler 7,12; Diskus: 1. Ilke Wyludda 69,96

Männer: Stabhochsprung: Uwe Langhammer 5,40, 100 m: Steffen Görmer 10,33; Hochsprung: Uwe Bellmann 2,18, Diskuswerfen: Jürgen Schult: 65,70, Hammerwerfen: Gunther Rodehau 77,96; 200 m: Torsten Heimrath 20,78; 800 m: Ralph Schumann 1:48,78; 5.000 m: Carsten Eich 13:42,27; 400 m Hürden: Daniel Blochwitz 51,79; Dreisprung: Jörg Frieß 16,93; Kugel: Ulf Timmermann 21,08.