Rußlanddeutsche auf Stop-over in Moskau

■ Die Stimmung der Wolgadeutschen ist sehr schlecht / Kaum Hoffnung auf Autonomie / Die meisten wollen ins gelobte Land / Boris Jelzin als letzte Hoffnung / Die Mehrheit der Delegierten hält die „extraterritoriale“ kulturelle Autonomie für ungenügend

Von Klaus-Helge Donath

Moskau (taz) - „Die Lage der Sowjetdeutschen ist heute noch schwieriger als Anfang diesen Jahres. Schon damals hatte sich die Mehrheit der Delegierten für eine Ausreise entschieden“, kommentiert U. Wormsbecher die gereizte Atmosphäre auf der außerordentlichen Delegiertenkonferenz der Gesellschaft „Wiedergeburt“, den Zusammenschluß der Rußlanddeutschen in der UdSSR. Bis dato kämpfte die Organisation für die Wiedererrichtung einer autonomen Republik der deutschen Minderheit, die von Stalin 1941 nach dem großdeutschen Überfall auf die Sowjetunion aus ihrem Siedlungsgebiet an der Wolga in alle Winkel des Imperiums deportiert worden war. Die zögernde Haltung der sowjetischen Behörden und der steigende Unmut innerhalb ihrer Klientel lassen die Wiedergeburt immmer mehr zu einem Dienstleistungsunternehmen in Richtung Ausreiseservice, Bestimmungsort Rhein-Main-Flughafen, werden. 150.000 haben die UdSSR verlassen.

Die Kontroverse innerhalb des Interessenverbandes spiegelt sich auch in ihrem Vorsitzenden wider. Wormsbecher kämpft mit allen Mitteln für die Errichtung einer autonomen Republik, er besteht aber nicht unbedingt auf einer Rückkehr der Volksgruppe in das angestammte Siedlungsgebiet an der Wolga. Ihr erster Vorsitzender Heinrich Groth dagegen hatte sich auf der zweiten Konferenz der „Wiedergeburt“ im Januar diesen Jahres ohne Rücksprache mit dem Vorstand für eine beschleunigte Ausreise seiner Landsleute stark gemacht. Unwillentlich sekundiert haben ihm hierbei die sowjetischen Behörden, die in der Klärung des Problems keine Dringlichkeit sehen.Im vorigen Dezember hatte der oberste Sowjet der UdSSR mit überwältigender Mehrheit beschlossen, den Krim-Tataren und Rußlanddeutschen „historische Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen und ihnen ihre Eigenstaatlichkeit möglichst im Rahmen autonomer Republiken zurückzugeben. Das Angebot der sowjetischen Seite, den Deutschen einen Status extraterritorialer Assoziationen einzuräumen, stieß bei ihnen auf nicht allzugroße Gegenliebe. Um diese Frage ging es noch einmal auf diesem Kongreß. Die Mehrheit der Delegierten sieht darin allerdings auch heute kein hinreichendes Zugeständnis. Trotzdem entschied sie, für Ende diesen Jahres einen Gesamtkongreß der Sowjetdeutschen einzuberufen, der über die Annahme des Status einer Assoziation, der zumindest kulturelle Autonomie einräumt, befinden soll. „Kulturelle Autonomie“, so meint Wormsbecher, „kann nützlich sein, um etwas zu erhalten. Aber was haben wir zu erhalten? Bei uns geht es um die Wiedergewinnung der Identität. Und das können wir nur über die territoriale Autonomie erreichen.“ Trotz seiner Kritik zählt er zu denjenigen, die sich auf dieses Angebot einlassen wollen - „als erstem Schritt zur territorialen Autonomie“. Die avisierte Konferenz soll einen Zentralrat wählen, der die Rechte einer nationalen Regierung besäße. „Wer kann schon mehr machen als unsere gesellschaftliche Organisation“, hofft Wormsbecher.

Das Ergebnis des Kongresses wird die Ausreisewilligen nicht von ihrer Entscheidung abbringen. „Wir sind nicht dafür, aber wir haben nichts, womit wir sie zurückhalten könnten“, so der zweite Vorsitzende. Wenig zur Ermutigung trug auch die Grußadresse des Ministerpräsidenten der russischen Föderation, Boris Jelzin, bei, in dessen Zuständigkeitsbereich 41 Prozent der Deutschen leben. Er bekräftigte, daß das Problem unter Berücksichtigung aller Beteiligten von seiner Regierung in Angriff genommen wird. Groth nahm dies zum Anlaß, nur in einem Bündnis mit Jelzin noch einen Ausweg zu sehen. Zuvor hatte der Vorsitzende der Nationalitätenkammer des Obersten Sowjet, der Usbeke Raffek Nischanow, die Position Gorbatschows zum besten gegeben. Demnach sei die Wiederherstellung der Autonomie an der Wolga zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich, und andere „Wege müßten gesucht werden, um das Problem zu lösen“. Auch dies trug nicht zur Ermutigung bei. Es ist allerdings auch ein Irrglaube, wie Herr Groth anzunehmen, mit den Kräften des demokratischen Blocks sei eine Übereinkunft leichter zu erzielen. Zwar gibt es Unterschiede in der Behandlung des Nationalitätenproblems zwischen den „Radikalen“ und den Konservativen in der Partei, aber sie klaffen nicht so weit auseinander wie in anderen Fragen. Leitmotivisch scheint überall die russische Identität durch, und auch ein Jelzin macht da keine Ausnahme.

Wormsbecher sieht in der Verschleppung des Problems auch keine Böswilligkeiten: „Das Land steht vor so großen Schwierigkeiten, unser Anliegen ist da nur eins unter vielen.“ Schließlich ließen sich solche Dinge nicht mehr wie früher durch einen einfachen Ukas des Obersten Sowjet lösen. Die Bevölkerung wolle dazu schon selbst ein Wörtchen sagen. Und das hat sie an der Wolga auch getan. Viele Russen haben sich mit aller Macht gegen eine Rückkehr der deutschen zur Wehr gesetzt. Wormsbecher ortet dahinter aber nicht in erster Linie Fremdenhaß, sondern die Machenschaffen der örtlichen Parteinomenklatura, die bei einer Rücksiedlung die Felle davonschwimmen sieht.