Dichtung, leibhaftig, und was für ein Tempo

■ Fred Canada, Dmitri Alexandrovich Prigov und William Cody Maher lesen in der Filmbühne am Steinplatz

„Vor den Wörtern stecken die primären Erfahrungen“ (R.D. Brinkmann)

Wer solche nicht durchmacht, vermag auch nichts zu sagen. Das ist so ein Diktum der Underground-, der amerikanischen Beat-Literatur gewesen. Sprechen und Schreiben sei eng an den Körper gekoppelt, den Dingen wird Ausdruck verliehen. Sprache - eine der Möglichkeiten des Körpers, sich im Raum und in der Zeit zu entfalten.

Nun kenne ich eine ganze Reihe deutscher Dichter, die sich dieser Tradition verpflichtet fühlen und nicht müde werden, das blasse Leben ihres ermatteten Fleisches ins Korsett der überkommenen Underground-Sprachklischees zu zwängen. Selbst die grellsten Bilder bleiben harmlos, da nun Literatur betrieben, der Autor gepflegt wird, nicht mehr den Körper drängt. Der Lackmustest für solche Art Schreibe ist dann die Lesung, bei der sich zeigt, ob der Rhythmus der Eingeweide die Wörter hervorbringt oder die Münder nur von gestanzten Bildern fremder Erinnerung plappern.

Am Wochenende wurde in der Filmbühne am Steinplatz eine solche Lesung gegeben. Der Titel - „Gipfel-Poeten/Summit -Poets“ bedarf einer kleinen Erklärung. William Cody Maher lebt seit 14 Jahren nicht mehr in den USA, sondern an verschiedenen Orten in Europa. Von Berlin aus unternimmt er mehrere literarische Ochsentouren - u.a. nach Heidelberg, wo er auf Dmitri Alexandrovich Prigov aus der UdSSR trifft. Wieder in Berlin, läuft er eines Nachts im tiefsten Winter durch Kreuzberg, rennt in Fred Canada hinein, der wie er ohne Geld und Essen und Heim durch die Gegend irrt. Sie stehen beisammen, zittern sich warm und überlegen sich Pläne für eine sonnigere Zukunft. Es ist noch gar nicht so lange her, da erhalten beide erstmals ein Stipendium. Als Cody in Berlin ein weiteres Mal auf Dmitri trifft, der hier auf Einladung des DAAD weilt, wird der Entschluß gefaßt, zusammen den Poeten-Gipfel zu veranstalten. Die Filmbühne am Steinplatz stellt ihren Kinosaal zur Verfügung, und das ist die Geschichte.

Ost-West-Gipfeltreffen sind ja inzwischen aufgrund der sich überschlagenden historischen Ereignisse an der Tagesordnung. In der Filmbühne aber gab es kein repräsentatives Wort aus dem Baukasten der sozialpolitologischen Machtdiskurse zu hören, keine Silbe wurde an Glasnost, Perestroika oder die deutsche Wiedervereinigung verloren. Erst die Veränderungen im Osten haben die Möglichkeit für Prigovs Teilnahme geschaffen - das war den Autoren Verweis genug. Cody wollte den Gipfel der Poeten auch als Zeichen verstanden wissen, daß jeder und jede das Recht habe, sich zu äußern, daß dies Angelegenheit der Menschen und nicht ihrer Vertreter in Sachen Politik und Literatur sei. Am zweiten Lesungsabend gesellte sich - ein schönes Beispiel - ein Mann aus Afrika gleichberechtigt zu den Superpower-Poeten: der Schwarze Vusi Mchunu aus Südafrika.

In stetigem Wechsel trug einer nach dem anderen seine Verse vor. Codys Gedichte belegen deutlich seine jahrzehntelange Existenz abseits der Gesellschaft, abseits des literarischen Mainstream. Seine Wörter zeigen gebrochene Bilder, die mit kaltem, bitterem Witz gesellschaftliche Strukturen sezieren, die den Menschen vereinnahmen und ihn zum seelenlosen Zombie degradieren wollen. Und was für ein Tempo! Das waren keine getragenen, verbauten Sentenzen, Wort für Wort ging es Schlag auf Schlag, tappte er mit den Füßen seinen Rhythmus, als wäre die Lesung eine Jamsession. Er sei ein Kind der Rockmusik, meinte er, um sich von den Beat-Autoren der fünfziger, sechziger Jahre abzugrenzen, denen der Jazz zu neuen sprachlichen Ausdrucksmustern verhalf.

Fred Canada hielt das Tempo. Er arbeitet in erster Linie als Theaterautor, sein Stück Manhattan Manners wurde in Berlin bereits vom Grips-Theater aufgeführt. Aus einem work in progress las er den Monolog eines schwarzen Homosexuellen: dessen Liebeserklärung an Elvis Presley. Kurz und in keiner Weise pathetisch wurden die Probleme eines Schwarzen, der in einen weißen Mann verliebt ist, angerissen, im Bewußtsein eine Spur aufgerissen. Auch Canada verhalf mittels seiner physischen Präsenz der Sprache zum Leben. Seine Worte kamen mit Nachdruck aus dem Körper, trugen seine Ode an Walt Whitman in den Raum hinein und füllten ihn aus mit Rhythmus und Wohlklang und der Hoffnung auf Verständnis unter den Menschen.

Eine Idee, deren Grenzen in der Wirklichkeit schon durch den Vortrag von Dmitri Alexandrovich Prigov deutlich wurden. Selbstverständlich las er wie die anderen Autoren in seiner Heimatsprache. Und wie seine Gipfelkollegen so ist auch der Chronist des Russischen nicht mächtig. Zwar lieferte der Autor vor jedem der screaming cantatas eine kurze Beschreibung des Themas und der Situation, doch blieb in erster Linie der Klang der fremden Sprache haften. Prigov war in der UdSSR einer jener untouchables, der Unberührbaren. Seine Gedichte wurden nicht verlegt, er durfte nicht öffentlich auftreten. Von Mund zu Mund wurde sein Name weitergegeben, er las im ganzen Land in den Küchen privater Interessierter, wo sich dann bis zu fünfzig Personen ballten.

Ein Ziel des Gipfel war es, zu zeigen, wie unterschiedliche Herkunft, unterschiedliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Strukturen eine jeweils eigene Sprache formen. Zu den von Prigov verwendeten Techniken gehört die Überarbeitung, das Neuschreiben von Werken anerkannter Autoren. Das ist wortwörtlich zu verstehen, er schreibt auf den Seiten veröffentlichter Bücher. Sprachlich bestehen seine screaming cantatas aus lautmalerischen Elementen aus ständigen Wiederholungen und der Zerstörung solcher Muster. Mit voller, klarer Stimme sprach er, leitete in einen primitiven Gesang über, wurde laut und schrie, dann wieder leise, ganz leise und behutsam. Sein virtuoser Umgang mit dieser Vielzahl sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten berührte - auch wenn ein Sinn verborgen blieb.

Vusi Mchunu leitete seine Texte mit kurzen Gesängen ein. Seine Gedichte unterschieden sich stark von denen der anderen Autoren durch ihre Verwendung kräftiger Bilder aus der Natur.

Alle Autoren vermochten es, ihre Wörter, Sätze, sprachliche Fetzen, Verdichtungen mit Leben zu füllen, zeigten, daß Poesie eng an den physischen Leib gebunden ist, daß erst dieser sie zum Beben bringen kann. Schön natürlich zu erfahren, daß auch im „New Age“ noch immer das Sein das Bewußtsein bestimmt. Schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, daß dieses Treffen von Underground-Autoren verschiedenster Nationalität und Herkunft mit keinem Pfennig öffentlicher Gelder unterstützt wurde, daß die Autoren die Veranstaltung selbst aufgezogen haben und daß die Filmbühne am Steinplatz ihnen nicht nur kostenlos den Kinosaal zur Verfügung stellte, sondern auch den Großteil der Einnahmen zukommen ließ.

R.Stoert