Weltgeist auf stählernem Roß

■ Leo Trotzki - Lebensroman und Daseinsverfehlung

Von allen schrecklichen großen Männern dieses Jahrhunderts war Trotzki gewiß die phantastischste, begabteste, lebensvollste Figur. Eben deshalb ist er jetzt der toteste von allen. Er ist so radikal gestoren, wie er gelebt hat.

Was bleibt, ist die Metapher seines Lebens, das er selbst literarisch verewigt hat. Der Mann hat ja nicht nur - im ironischsten Gegensatz zum historischen Materialismus Geschichte „gemacht“ (wirklich gemacht), sondern sie immer auch als seinen ureigensten Lebensroman gleich mitgeschrieben. Und wann ist echte Literatur jemals so geschrieben worden! Auf der Pritsche im zaristischen Gefängnis (aus dem er bald wieder freikommen würde - keiner seiner Feinde ist später so billig davongekommen); im Panzerzug zwischen den Schlachten, auf den Knien notierend; am Schreibtisch im Exil, von Attentätern umschlichen. Und immer die Feder gewissermaßen in ein Meer von Blut, Schweiß und Tränen getunkt, das er selbst mit angerührt hatte...

Ob seine Geschichte der russischen Revolution oder seine Autobiographie Mein Leben Caesars Gallischen Krieg, Bonapartes Oevres oder Bismarcks Betrachtungen an stilistischem Glanz übertreffen, sei dahingestellt. Aber mit Sicherheit an welthistorischem Sendungsbewußtsein: „Die ganze Geschichte - das ist eine große Maschine im Dienste unserer Ideale. Sie arbeitet barbarisch langsam, mit fühlloser Grausamkeit, aber sie tut ihre Sache.“ So der siebenundzwanzigjährige Trotzki, nachdem er 1905 einen kurzen revolutionären Sommer lang als Vorsitzender des spontan gebildeten Petersburger „Sowjet“ Lokomotivführer und Weltgeist gespielt hatte. Es stellte sich heraus, daß in Rußland diese Maschine statt mit Dampf gewissermaßen noch mit Pferdekraft arbeitete. „Gaul Geschichte - du hinkst!“, wie Majakowski dichtete. Macht nichts. Das Jahr 1917 brachte den Zusammenbruch des Zarenreichs im Weltkrieg und die totale Atomisierung der russischen Gesellschaft wie in einem Naturprozeß. Als die politische Massenbewegung im Spätsommer 1917 auf dem Nullpunkt angelangt war, warf Lenin die Frage auf: Können die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? und antwortete selbst: wenn hunderttausend Gutsbesitzer Rußland regieren konnten, können es 400.000 Bolschewiki erst recht...

Die eigene Partei scheute zurück. Dafür sprang ihm der Nicht-Bolschewik Trotzki zur Seite, als Tribun und Kommandeur eines „Revolutionären Militärkomitees“, auf das ein paar tausend meuternde Matrosen und Soldaten der Petrograder Garnison hörten. Mehr bedurfte es nicht. Der Machtwechsel geschah nahezu unbemerkt und (zunächst) fast ohne Blutvergießen. Um so phantastischer das Kolossalgemälde, das Trotzki später von der „Nacht der Entscheidung“ malte - worin die völlige Abwesenheit des Proletariats als ein Fall mythischer Übereinstimmung erscheint:

„In der Nacht zum 25. Oktober begaben sich die Mitglieder des revolutionären Komitees in die Bezirke. Ich blieb allein (...) in dem kleinen Eckzimmer des dritten Stocks, das in dieser entscheidenden Nacht der Revolution der Kommandobrücke eines Kapitäns glich. (...) Die Bürger und das Beamtentum, zusammengekauert in ihren Betten, versuchen zu erraten, was wohl in den geheimnisvollen und gefährlichen Straßen vor sich gehe. Den wachsamen Schlaf eines Kriegslagers schlafen die Arbeiterviertel. Komissionen und Beratungen der Regierungsparteien tagen, vor Ohnmacht erschöpft, in den Zarenpalästen (...) An den Scheiterhaufen wärmen sich die Straßenpatrouillen. An zwei Dutzend Telefonen konzentriert sich das geistige Leben der Hauptstadt, die in dieser Herbstnacht den Kopf aus der einen Epoche in die andere zwängt.“

Lenin kommt aus seinem Versteck. Und die beiden bilden den ganzen Bürgerkrieg hindurch eine Art Duumvirat. Wenn es Lenins eigentliche historische Leistung ist, aus einem kleinen Parteikader einen allumfassenden Machtapparat zu schmieden, so die Leistung Trotzkis, eine rote Armee aus dem Boden zu stampfen, die am Ende fünf Millionen Mann zählt. Er ist der Kriegsgott dieser Jahre. Mit seinem Stahlroß, dem legendären Panzerzug, umgeben von einer Leibgarde schwarzer Ledermänner, rast er von Front zu Front und führt eine Disziplin ein, wie sie keine Armee der Welt bis dahin gekannt hatte. Nicht nur auf Feigheit, auch auf Versagen, Unachtsamkeit, ja bloße taktische Fehler hieß das Urteil: Erschießen! Und kein anderer als Trotzki ist es, der im Juni 1918 die Errichtung von Konzentrationslagern („Konzentrazionnyjelagerja“) anordnet und vorschlägt, dort sämtliche „undurchsichtigen Agitatoren, konterrevolutionären Offiziere, Saboteure, Parasiten, Spekulanten“ hinter Stacheldraht zu bringen - Teil einer neuartigen sozialen Kriegsführung mit Brotkarte und Arbeitsbuch, Geiselnahmen und systematischem Massenterrorismus.

In einer Rundumverteidigung, die zugleich Rückeroberung und Neukolonisierung ist, wird Zug um Zug das alte Vielvölkerreich auf neuer Grundlage zusammengefügt. Bertrand Russell erlebt Trotzki auf einem Meeting im Sommer 1920, während des Kriegs mit Polen, als eine nationale Figur: „Dann sprach er ein paar Sätze, kurz und scharf, mit militärischer Genauigkeit, und endigte damit, daß er ein 'dreifaches Hoch unseren Burschen an der Front‘ ausbrachte (...)“ Trotzki und die Rote Armee haben jetzt zweifellos ein starkes Nationalgefühl hinter sich.“

Daß er sich selbst damit immer mehr den Boden unter den Füßen wegzog - er merkte es nicht. Stattdessen erzählte er mit Wonne die Anekdote von jenem Bäuerchen, das ihm (unwissend, mit wem es sprach) gesagt habe: Lenin, diesen Juden, sollte man zum Teufel schicken - „aber Trotzki, das ist einer von uns...“

Im März 1921 ließ er die revoltierenden Kronstädter Matrosen, die auf der Wiederherstellung der Sowjetdemokratie beharrt hatten „wie Rebhühner abschießen“ - so, wie er es ihnen wortwörtlich angedroht hatte. Danach wurde jede, selbst innerparteiliche Demokratie ausgeschaltet. Daß er selbst, der ursprünglich fraktionslose Sozialist und radikale Literat, sich damit die Luft zum Atmen nahm, hätte er wissen können. Aber er wußte ja längst nicht mehr, was er eigentlich tat und welches geschichtliche Unwesen er zum Erscheinen gebracht hatte.

So wenig wie Lenin, der am Ende seines Lebens, von Gehirnschlägen gelähmt, vor seinem eigenen Golem, dem Sowjetstaat und Parteiapparat, tödlich erschrak. Noch einmal suchte er das Duumvirat mit Trotzki, um ein paar hilflose Gegenmaßnahmen einzuleiten. Vergeblich. Trotzki, noch immer von der Aura eines potentiellen Bonaparte umgeben, war selbst von einer unerklärlichen Schwäche befallen. In der entscheidenden Phase des Kampfes um die Macht, im Dezember 1923, meldete er sich zur Kur ans Schwazre Meer ab. Dort wurde er - verspätet - von Lenins Tod unterrichtet. Er konnte nicht einmal an der Grablegung auf dem Roten Platz teilnehmen, bei der Stalin dreist die Toga des legitimen Nachfolgers überstreifte. Ende einer kurzen, schwindelerregenden Karriere als Machtmensch und Weltgeist auf stählernem Roß: „In Suchumi lag ich lange Tage auf dem Balkon mit dem Gesicht zum Meere (...) Das ständige Gefühl erhöhter Temperatur vermischte sich mit dem bohrenden Gedanken an Lenins Tod (...) Mit dem Einatmen der Meeresluft sog ich mit meinem ganzen Wesen die Gewißheit ein, daß im Kapmf gegen die Epigonen das historische Recht auf meiner Seite steht.“

Nur daß dieses „historische Recht“, das sich auf das Bewußtsein der Kongenialität berief, gegenüber den „Epigonen“ keinen Pfifferling wert war. Es gab überhaupt kein historisches Recht in der Sache. Revolution und Konterrevolution waren längst dasselbe. Die Ablösung als Kriegskommissar erreicht Trotzki im Frühjahr 1925, nein, nicht auf der Rebhuhn-, aber auf der Entenjagd. Seine Schwächeanfälle hielten an. Ihr Kern war die prinzipielle Weigerung, gegen die Partei an das Volk oder auch nur die Arbeiterklasse zu appellieren. Aus guten Grund: „Sozialismus“, das hieß Kollektivierung, gab es nur mit der Partei. Gegen die Partei gab es ergo keine Berufung. Innerhalb der Partei gab es keine Berufung gegen die Entscheidungen des Zentralapparats. So wurde Trotzki zum „Parteifeind“ und die sogenannten „Trotzkisten“ zum Punchingball interner Machtkämpfe. Immerhin erschoß man noch nicht, sondern verhaftete „nur“ oder schloß aus. Trotzki schickte man ins Exil. Auf einem jüngst veröffentlichten Foto, das ihn während der Abschiebung im Februar 1929 in die Türkei zeigt, wirkt er beinahe heiter.

Und genau so kommt er, ungebrochen von allen Bitternissen des Exils, im Januar 1937 in Mexiko an, seiner letzten Station. Alice Rühle-Gerstel schilderte den Empfang so: „Trotzki war sehr unbefangen, heiter, agil, ziemlich jugendlich und benahm sich wie ein Hocharistokrat bei einem Empfang der Dorfbevölkerung, das heißt, ohne jede Spur von Herablassung, mit feinster Betonung der absoluten Gleichheit, sehr höflich und ganz zwanglos (...) Er sieht ganz anders aus als auf den Bildern (...) Nie hätte ich gedacht, daß Trotzki blaue Augen haben könnte. Das sind zutiefst unschuldige Auigen, unschuldig in dem Sinne eines naiven Weltvertrauens, Selbstvertrauens und Menschenglaubens, ein Mensch, der nicht zweifelt, weil ihn das traurig machen würde, weil er sich vielleicht fürchtet, im Zweifel die Balance zu verlieren...“ Später lernt sie ihn näher kennen. Aber der Eindruck bleibt derselbe: „Der ganze Trotzki macht den Eindruck, daß man ihn nicht beschmutzen dürfe, nicht einmal mit Zigarettenrauch. Er ist so rein (...), so bruchlos. Er trägt einen alten Anzug, abgeschabte, derbe Sandalen, das Zimmer ist unfreundlich, düster, sein Schicksal jammervoll, fürchterlich, voller Komplikationen. Das alles merkt man nicht, man muß es sich immer dazu denken.“

Noch immer spielt er den sozialistischen Weltdiktator außer Dienst. In der Wirklichkeit ist er Schriftsteller und Ankläger von unglaublicher Wortgewalt und beklemmender Scharfsicht. Keiner hat so genau wie er das fatale Zusammenspiel von Stalinismus und Nationalsozialismus entlarvt, von der „Sozialfaschismusthese“ 1929 bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939. Freilich, davon sticht der groteske Revolutionalismus seiner Prognosen ab. Am verfehltesten die nach Ausbruch des Weltkrieges: „Der Sieg der Volksmassen über die Nazityrannei wird eine der größten Explosionen in der Weltgeschichte sein...“ (Dezember 1939) - „Die Frage ist, ob als Ergebnis des gegenwärtigen Krieges die gesamte Weltwirtschaft auf planmäßiger Grundlage aufgebaut wird...“ (Februar 1940) - „Das Ziel der IV.Internationale ist die Ausbreitung der Oktoberrevolution über die ganze Welt und zugleich die Wiederbelebung der UDSSR (...) durch den Aufstand der Arbeiter, Bauern, roten Soldaten und Matrosen gegen die neue Kaste der Unterdrücker und Parasiten.“ (April 1940)

Aber dem überspannten Revolutionalismus der Aufrufe entspricht kein Versuch eines ernsthaften revolutionären Widerstands gegenüber dem stalinistischen Regime, das sogenannte Trotzkisten zu Tausenden henkt und abschlachtet wie Rebhühner. Trotzki sieht der äußersten Möglichkeit ins Auge: Wenn „der gegenwärtige Krieg keine Revolution“ hervorbringt, könnte sich die UdSSR sehr wohl als „Vorläufer eines neuen Ausbeuterregimes im internationalen Maßstab“ erweisen. Dann allerdings müßte man den Marxismus selbst revidieren und die „grundlegende Unfähigkeit des Proletariats, eine herrschende Klasse zu werden“, anerkennen. (So schon bei Kriegsbeginn im September 1939)

Aber als sich der Kreis der Mörder enger um ihn zieht, verwirft er in seinem politischen „Testament“ diesen Gedanken schnell wieder: „Mein Glaube an eine kommunistische Zukunft ist heute stärker noch als in meiner Jugend. Natascha hat das Fenster noch weiter geöffnet, damit die Luft besser in mein Zimmer strömen kann. Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren Himmel darüber und die Sonne über allem. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt, und es voll genießen. L. Trotzki, 27.2.1940“

Trotzkis Vorstellung von Revolution, sein eigenes kurzes und verheerendes Wüten als Revolutionär, folgte dieser mehr als schlichten, kindlichen Vorstellung einer vom Übel gereinigten Welt, die funkelnagelneu „auf planmäßiger Grundlage“ aufgebaut werden könnte. Daraus entstand ein ganzes System politisch-ökonomischer Fehlgedanken, und Lew Dawydowitsch Bronstein, genannt Trotzki, hat es mit der höchsten theoretischen Potenz ausgearbeitet und mit phantastischer literarischer Vehemenz verfochten. Aber: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“ Diesen Satz Spenglers, den Bucharin in seiner letzten Rede vor Gericht verwendet hat, hatte Trotzki dutzendemale ähnlich formuliert. Fast scheint es, als hätte auch er (wie Bucharin) seinen eigenen Tod akzeptiert, um die literarische Metapher seines Lebens unversehrt zu erhalten.

Gerd Koenen