„Ich fühle die Kraft des Volkes wachsen“

■ Interview mit Iwan Dratsch, dem Vorsitzenden der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“, Deputierten im Obersten Sowjet der Ukraine

Zwischen Michail Gorbatschow und den verschiedenen Unionsrepubliken findet zur Zeit ein Wettlauf statt, bei dem der sowjetische Präsident immer mehr ins Hintertreffen zu geraten droht. Wie soll die künftige Union aussehen und vor allem - wer wird noch an ihr teilnehmen? Daß die baltischen Staaten ausscheren, ist im Prinzip von allen Seiten akzeptiert.Auch die transkaukasischen Republiken neigen dazu, die Union zu verlassen. All dies wäre für ein neues „Commenwealth“ zu verkraften, aber was, wenn die Ukraine geht? Wie wären heute die ökonomischen Verflechtungen zu entwirren, welche Stellung sollten die Russen, in manchen Regionen der Ukraine die Mehrheit, in einer künftig selbständigen Ukraine einnehmen? Mit einem ersten Interview meldet sich unser Sowjetunion-Korrespondent Klaus-Helge Donath aus der Ukraine.

taz: Am Anfang der Bewegung gab es noch eine Menge Berührungspunkte zwischen Ruch und den fortschrittlicheren Kräften in der KP. Befindet sich Ruch heute nach Gründung einer eigenen Partei in kompromißloser Opposition zu den Kommunisten?

Dratsch: Der entscheidende Unterschied liegt in der Antwort auf die Frage, ob die Ukraine sich noch an einem gemeinsamen Unionsvertrag beteiligen soll. Die Kommunisten sind dafür, Ruch dagegen.

Für Ruch gibt es also keine Alternative mehr zu einem souveränen ukrainischen Staat?

Ohne Zweifel. In unserer Vorstellung sollten aus der UdSSR einzelne souveräne Staaten hervorgehen. Als eigenständiges Staatsgebilde kann die Ukraine dann gemeinsam mit dem Westen an die Errichtung des Gemeinsamen Hauses gehen.

Vor nicht allzulanger Zeit haben Sie Gorbatschow noch in höchsten Tönen gepriesen, geradezu Bewunderung für ihn geäußert. Wenn Sie jetzt mit der Unabhängigkeitserklärung so vorpreschen, glauben Sie ihm dadurch nicht großen Schaden zuzufügen?

Ruch schätzte und unterstützte Gorbatschow als Initiator der Perestroika, aber als allrussischen Imperator akzeptieren wir ihn nicht.

Was die Unabhängigkeit betrifft, haben Sie also in den letzten neun Monaten eine Hunderachtziggradwende vollzogen?

Ja, unsere Einschätzungen verändern sich. Aber trotzdem halten sie nicht einmal Schritt mit den Ereignissen. Die Dinge entwickeln sich schneller, als man seine Meinung über sie verändern kann.

Wenn Gorbatschow die baltischen Republiken aus der Union entließe, dann könnte er das noch verkraften. Läßt er aber die Ukraine gehen, dann bricht das Imperium endgültig auseinander und er verlöre seine Position. Trotz aller berechtigten Kritik ist er heute aber noch Garant des Friedens in diesem Land.

Eine Person allein kann den Frieden nicht garantieren. Einziges Unterpfand des Friedens sind souveräne, unabhängige Völker. Die Ukrainer sind jetzt auf dem Weg in die Unabhängigkeit, und das wird sich nicht aufhalten lassen.

Welche Position könnte Gorbatschow nach dem Fall des Empires noch bekleiden?

Nun, er kann Präsident des Kreml werden, oder Jelzin findet ihm eine andere Funktion, womöglich einen Posten in der Regierung Rußlands.

Sie haben sich mal anerkennend über Gorbatschows Empathie in der ukrainischen Frage geäußert. Kennen Sie seine Haltung zum Unabhängigkeitsbegehren jetzt?

Es ist schwierig zu sagen, was Gorbatschow davon hält. Aber bedenkt man, daß er Iwaschko zu seinem Ersten Assistenten gemacht und Rewenko, einen ukrainischen Gebietsparteisekretär, in seinen Präsidialrat berufen hat, dann bedeutet das, er bereitet sich schon auf den Tag vor, an dem die ukrainische Trumpfkarte auf dem Tisch liegt.

Und wann wird das sein?

Von Natur aus bin ich skeptisch und Pessimist. Die Ereignisse haben sich immer schneller entwickelt, als ich sie vorausgesehen habe. Das wird diesmal nicht anders sein. Kürzlich hab ich mich mit Wählern getroffen und da stand ein kleines Mädchen mit der blau-gelben ukrainischen Fahne. Als sie mich fragten, wann die Ukraine unabhängig sein wird, sagte ich, wenn dieses Mädchen erwachsen sein wird und heiratet. Aber jetzt glaube ich, das Mädchen muß schneller wachsen. Die Unabhängigkeit kommt nicht erst in zehn Jahren, sondern in fünf oder noch früher.

Vielleicht will das Mädchen dann gar nicht mehr heiraten... In der jetzigen Zusammensetzung würde das ukrainische Parlament, obwohl es eine radikale Souveränitätserklärung angenommen hat, die totale Unabhängigkeit voraussichtlich gar nicht unterstützen. Manche Leute fordern daher Neuwahlen. Sind die wirklich nötig?

Ich weiß nicht, ob das etwas bringt. Ich bin skeptisch. Wenn aber 100.000 oder 200.000 Leute einmal zum Parlament kämen, dann würde das Parlament viel schneller handeln.

Auch dieses Parlament?

Aber natürlich. Absolut, nämlich in der Vergegenwärtigung des erwachenden Volkes, der Nation.

Die Ukrainer erwachen, das stimmt, sie stehen aber nicht gleichzeitig auf. In der Westukraine laufen die Uhren anders als im Osten. Fürchten Sie da keine Probleme?

Nein, auch die Bergarbeiter im Osten haben mit der ukrainischen Flagge gestreikt. Die Unterschiede nivellieren sich allmählich. Und die Forderungen der Bergarbeiter waren so klar politisch, wie sie Ruch nicht radikaler hätte stellen können.

Hat die von Moskau verschleppte Tschernobyl-Hilfe zur nationalen Erweckung beigetragen?

Alles hilft. Tschernobyl hilft, die Bergarbeiterstreiks helfen, selbst Iwaschko hilft.

Wie wird denn eine künftig souveräne Ukraine mit der Krim -Frage umgehen?

Wir brauchen eine autonome Krimrepublik, in der die Rechte der Krimtataren garantiert sind. Wir unterstützen ihren Kampf. Der stärkste Widerstand gegen die Rückkehr der Tataren auf die Krim kommt von den Russen.

In Georgien spricht man von einer abchasischen Karte, die Moskau auszuspielen droht. Kann das Gleiche mit der Krim passieren?

In der Ukraine ließen sich viele Abchasien schaffen. Die Donezker Pribodych-Republik der 20er Jahre etwa, die Ruthenen in den Transkarpathen ebenso. Dann gibt es da noch die Moldau-Rumänien-Frage im Süden. Ich glaube, die Strategen des letzten Imperiums werden ihr Handwerkszeug schnell beisammen haben. Am schmerzlichsten ist aber der Konflikt zwischen der katholischen und orthodoxen Kirche in der Westukraine. Das Spektrum an Konflikten, die provoziert werden könnten, ist so groß, daß es für den künftigen Herrscher schwierig sein dürfte, einen rauszupicken.

Die Ukraine und Rußland waren miteinander bisher sehr eng verwoben. Wie soll das Verhältnis zur UdSSR oder ihrem Rest, der Russischen Föderation, künftig aussehen? Anzeichen eines überschwenglichen Willkommensgrußes aus dem Westen bleiben noch aus, und darauf warten ganz andere Länder?

Wir brauchen ganz normale Beziehungen zu Rußland, wie normale Staaten, gesteuert von den wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Das Volk der Ukraine will einen unabhängigen Staat, und wir haben viele Ressourcen, obwohl das Land vergewaltigt wurde und noch wird. Im internationalen Wettbewerb können wir mithalten.

Sie haben ziemlich lange gebraucht, um aus der KP auszutreten, wie lange?

Sehr lange. Über 30 Jahre mit drei Verweisen. Ich habe lange versucht, den Kurs zu ändern, dann aber gemerkt, daß es unmöglich ist. Wie ein polnischer Demokrat sagte, ich bin in einem roten Zug zum Bahnhof meines Heimatlandes gefahren (eine hübsche Variante auf den Ausspruch des vormaligen polnischen Sozialisten und späteren autokratischen Herrschers Polens, Marschall Pilsudski: „Ich bin von dem Zug in Richtung Sozialismus bei der Haltestelle Nation ausgestiegen.“ C.S.).

Und beim Aussteigen war der Stationsvorsteher ausnahmsweise kein Russe... Kann man sagen, jetzt wäre der Höhepunkt der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung seit 1953 erreicht?

Manchmal war die Unabhängigkeitsbewegung nur ein kleines Bächlein, manchmal ein reißender Strom. In der Zukunft wird es sehr interessant sein, wie sich die Beziehungen zwischen der Ukraine und Deutschland entwickeln. In der Geschichte hat Moskau oft die polnische Karte gespielt und Deutschland die ukrainische. Und das wird weitergehen.

... Das wollen wir doch nicht hoffen, denn die Ergebnisse waren ja nicht gerade ermutigend. Wo soll denn da heute der Unterschied sein?

Vielleicht ist das nur mein altes subjektives Denken, aber ich fühle die Kraft und die Macht des ukrainischen Volkes wachsen und daß die Ukraine eine Macht ist.

Das Gespräch führte K.-H. Donath