Auge um Auge, Zahn um Zahn

■ Der neue Gebietssowjet im südwestukrainischen Lwow ist erbost über die Berichterstattung der 'Prawda‘ und entzieht dem Korrespondenten die Akkreditierung

Aus Lwow Klaus-Helge Donath

Der Vorgang ist bisher einmalig. Ein Gebietssowjet erregt sich über die Berichterstattung eines Journalisten und entzieht ihm kurzerhand seine Arbeitserlaubnis. So geschehen im südwestukrainischen Oblast (Verwaltungsbezirk) Lwow, wo die Wellen der ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen von Moskau besonders hochschlagen. Getroffen hat es ausgerechnet den Korrespondenten der 'Prawda‘. Die Partei hat in der letzten Zeit eine Menge Tiefschläge wegstecken müssen. Davon unberührt blieb allerdings bisher ihre dominante Stellung im Mediensektor.

Der Hintergrund: Bei den Wahlen zu den neuen Sowjets im Frühjahr dieses Jahres in der Westukraine fügten die Kandidaten des „Demokratischen Blocks“ den ukrainischen Kommunisten eine verheerende Niederlage zu. Von den 196 Sitzen eroberten 170 allein Vertreter des „Demokratischen Blocks“ und der Nationalisten. Der Rest ging an die Kommunisten, von denen nochmal elf nach dem Urnengang die Seiten wechselten. Zum neuen Vorsitzenden wählte das Parlament Wjatscheslaw Tschornowil. Er war kein unbeschriebenes Blatt mehr. Denn für seine „ketzerischen“ Schriften hatte er einige Jahre in Gefängnissen gebüßt und war erst vor drei Jahren aus einem Arbeitslager entlassen worden. Tschornowils Unterschrift steht nun unter dem Beschluß, der dem 'Prawda'-Jornalisten vorgestern zuging. Er wird darin beschuldigt, eine verleumderische Kampagne gegen die gewählten Organe des Lwower Gebietes zu führen und die Leser systematisch zu desinformieren. Als Maßnahmen sieht die Entscheidung vor, das Korrespondentenbüro des Zentralorgans an einen anderen Ort außerhalb des Regierungsbezirks Lwows zu verbannen und die Bedingungen des Mietvertrages bis zum 1.September noch einmal eingehend zu prüfen. Außerdem soll eine ständige Parlamentskommission Richtlinien zur Akkreditierung von Korrespondenten entwerfen und die Frage klären, inwieweit man ihnen zukünftig Hilfe angedeihen lassen kann. Erst als vierten Punkt sieht die Verfügung vor, die Streitigkeit zwischen dem 'Prawda' -Mitarbeiter Drosda und dem Gebietssowjet einer gerichtlichen Klärung zu überlassen. Er wird beschuldigt, gegen die Artikel 66 und 125 des Strafgesetzbuches der Ukraine verstoßen zu haben, interethnische Feindschaft geschürt und wissentlich die Unwahrheit verbreitet zu haben.

Besonders ein Artikel vom Anfang August hatte das Faß zum Überlaufen gebracht. Unter dem Titel „Was für eine Ukraine wollen sie“ unternahm Drosba eine Nabelschau der neuen Deputierten in den Sowjets und im Obersten Sowjet der Republik. Im Gleichschritt mit der Wahrheit kam er noch zu der unstrittigen Feststellung, daß alle eine unabhängige Ukraine anstreben und Wortführer eines bürgerlich -demokratischen Parlamentarismus mit eindeutiger prokapitalistischer Tendenz seien, die mit der KP nichts mehr am Hut hätten. Doch damit nicht genug. Durch nicht näher ausgewiesene Zitate suggerierte der Autor, als würden alle Volksvertreter nur nach Rache dürsten: „Wir werden die anderen Länder einholen, in denen man die Partei gerichtet hat. Die Kommunisten werden im Blut ertrinken, in der ganzen Ukraine. Keiner wird denen, die aus den Mauselöchern hervorkriechen, Schutz bieten“. Zugegeben, auch solche Stimmen mag es in der Ukraine geben, wie überall. Sie sind aber keineswegs repräsentativ für die Aktivisten aus der Unabhängigkeitsbewegung „Ruch“, der sich mittlerweile auch viele ehemalige Kommunisten angeschlossen haben. Ihnen im besonderen gilt sein Groll („Noch gestern fuhren viele von ihnen auf dem Parteiticket“). Sollte es diesen Kräften gelingen, droht Drosda abschließend, den Obersten Sowjet nach ihren Vorstellungen umzumodeln, „werden die ersten Opfer die Andersdenkenden sein“ - und gemeint sind damit die Kommunisten, die im Obersten Sowjet der Ukraine noch über eine satte Dreiviertelmehrheit verfügen. In der letzten Zeit waren Stimmen laut geworden, für das höchste Organ der Republik daher Neuwahlen auszuschreiben. Die überreizte Reaktion des 'Prawda'-Menschen steht zweifellos im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung, die das ukrainische Parlament mit großer Unterstützung sogar der kommunistischen Deputierten im Juli verbschiedet hatte. Der Weg der Ukraine in die Unabhängigkeit ist die Schicksalsfrage des sowjetischen Imperiums.

Aber auch die Maßnahmen Tschornowils, die 'Prawda‘ zu verbannen, wurden nicht allerorts gutgeheißen. Die Klärung diese Streits, meinten Kritiker, hätte er im Vorgriff auf den angestrebten Rechtsstaat den Gerichten überlassen sollen. Statt dessen hat er Öl ins Feuer seiner Gegner gekippt.