„Im Namen Ost-Berlins“ - „Alles hundertprozentig durchorganisiert“

■ Interview mit dem Berliner ÖTV-Vorsitzenden Kurt Lange zum Warnstreik der Ostberliner Beschäftigten im öffentlichen Dienst und mit dem Ost-Berliner ÖTV-Mitglied Norbert Stirnal / Lange: „Was wir tun, tun wir im Namen der Ostberliner Beschäftigten“ / Die Interviews führte Martina Habersetzer

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taz: Sind Sie mit der Resonanz Ihres Aufrufs zufrieden?

Kurt Lange: Es waren bestimmt 10.000 hier, der Platz war voll, und es sind auch während der Veranstaltung noch Leute hinzugeströmt. Viel wichtiger aber ist, daß der Warnstreik in den großen Bereichen des öffentlichen Dienstes zu 100 Prozent geklappt hat, das heißt Verkehrsbetriebe, Stadtwirtschaft, Wasser und Stadtbezirksverwaltungen. Neben dieser Veranstaltung hat es noch elf weitere gegeben, die ebenfalls sehr gut besucht waren.

Fühlen Sie sich nicht etwas seltsam dabei, wenn Sie als Westberliner hier auf dem Podium stehen und zu den Ostkollegen reden?

Wir werden bald eine Stadt sein und sind vorher schon eine Gewerkschaft, und als Gewerkschaftsvorsitzender redet man für die Kolleginnen und Kollegen, dafür ist man gewählt worden. Ob ich nun für die Kollegen und Kolleginnen der BVG oder der BVB rede, ich rede im Namen einer gemeinsamen solidarischen Gemeinschaft. Jeder Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in Ost-Berlin kann Mitglied der ÖTV werden und sich mit gleichen Rechten und Pflichten an dem Willensbildungsprozeß beteiligen. Was wir hier tun, ist insofern im Namen der Ostberliner Beschäftigten geschehen.

Sie wollen mit diesem Warnstreik die Arbeitgeber dazu bewegen, daß sie bei der nächsten Verhandlungsrunde ein „geeignetes“ Angebot vorlegen. Beißt es sich bei den derzeitigen Finanzen nicht, sowohl höhere Löhne als auch den Schutz der Arbeitsplätze zu fordern?

Bei Tarifverhandlungen in West wie Ost wird immer darauf verwiesen, daß es nur bestimmte Summen gibt, die zur Verfügung stehen. Wir machen darauf aufmerksam, daß die Steuerkassen im Westen klingeln, weil sich große Konzerne durch die Marktbeherrschung in der DDR goldene Nasen verdienen. Diese Steuergelder müssen wieder zurückfließen, die Arbeitnehmer erbringen eine Leistung, für die sie auch anständig bezahlt werden müssen.

De facto verfügt die DDR-Regierung aber nicht über horrende Summen, der Fonds ist begrenzt.

Völlig richtig. Aber da bundesrepublikanischen Konzerne sehr viel Geld verdienen und entsprechend viele Steuern abführen, deshalb muß aus dem Bundeshaushalt das erforderliche Geld zur Verfügung gestellt werden.

„Alles hundertprozentig durchorganisiert“

„Wir wollen nicht das Sparschwein der deutschen Einheit sein“, verlangte gestern Norbert Stirnal, KFZ-Schlosser und Vorhandwerker bei den Ostberliner Verkehrsbetrieben, auf der Kungebung vor dem Haus des Ministerpräsidenten. Der 43jährige Stirnal ist seit April dieses Jahres Mitglied der ÖTV, nachdem er wegen mangelnden Vertrauens zu den Gewerkschaftsfunktionären aus dem FDGB ausgetreten war.

taz: Warum sind trotz vollständigem Warnstreik nicht alle Beschäftigten der Ostberliner Verkehrsbetriebe auf der zentralen Kundgebung erschienen?

Norbert Stirnal: Viele mußten auf den Dienststellen bleiben, weil wir bei einer Stunde Warnstreik nicht die Werkstätten verlassen können. Der Verkehrsablauf muß danach ja zügig weitergehen. Das war alles hundertprozentig durchorganisiert.

Fühlen Sie sich von dem Westberliner Gewerkschaftsvorsitzenden Kurt Lange, den Sie ja nicht direkt als Vorsitzenden gewählt haben, vertreten?

Selbstverständlich. Er ist der Partner, der die Tarifverträge der BVG mit dem Land Berlin abgeschlossen hat, die wir hoffentlich eines Tages übernehmen können, wenn wir eine Firma und eine Stadt sind. Er beweist auch bei den jetzigen Tarifverhandlungen Fachkompetenz, und deshalb fühlen wir uns bei ihm gut aufgehoben.

Von der DDR-Regierung hat sich heute aber niemand sehen lassen.

Vielleicht wollte Staatssekretär Krause es vermeiden, daß er wieder mit Früchten beschmissen wird. Wir hätten ihn natürlich nicht mit Ersatzteilen bewerfen können, so was macht man nicht, aber damit muß man heute als Politiker rechnen.

Was glauben Sie, wie geht es jetzt weiter?

Wir hoffen, daß das jetzt ein Signal ist und daß der Arbeitgeber sieht, daß wir vereint als ÖTV eine Macht in Berlin sind, und daß er auf unsere Forderungen eingeht. Wir fordern ja nichts Unmögliches, sondern nur das, was die anderen Gewerkschaften - Metall, Chemie, Glas - in der DDR schon haben.