Sturmtief über Island

■ Gudny Halldorsdottirs „Am Gletscher“, Mo., 23 Uhr, ARD

Island ist ein Ort für Legendenbildung. Das hat schon Jules Verne gespürt, der den Einstieg zur Reise ins Innere der Erde in jene urzeitliche Gletscherlandschaft legte. Halldor Laxness, Literatur-Nobelpreisträger und isländischer Nationalheld, erschrieb sich mit der literarischen Verarbeitung der nordischen Sagas über Fischer, Krämer, Schafhirten und Dichter seinen Weltruhm. Tochter Gudny Hallorsdottir nun hat Am Gletscher eine seiner mysthischen Geistergeschichten verfilmt.

In der kargen isländischen Einöde, weit ab von der Hauptstadt Reykjavik, versieht seit 20 Jahren ein skurriler Geistlicher seinen Dienst. Doch die Dorfkirche ist schon seit Jahren vernagelt. Dafür „steht der Gletscher offen“, erzählt Pastor Jon. Statt Gottesdienste abzuhalten, beschlägt er lieber Pferde oder repariert Primus-Gaskocher. Trotzdem verehren ihn die Einheimischen wie einen Heiligen. Dem Bischof in der Hauptstadt ist sein Verhalten allerdings nicht geheuer. Darum wird der junge Bischofsvertreter Vebi beauftragt, die Hintergründe seines seelsorgerischen Wirkens zu untersuchen. Mit Mikrophon und Schreibblock gewappnet, interviewt Vebi die Gemeindemitglieder.

Seltsame Dinge kommen ihm dabei zu Ohren: der Pastor soll eine männermordende, unsterbliche Geisterfrau geheiratet, die Ehe aber nie vollzogen haben, Tote werden nicht begraben, sondern auf den magischen Gletscher getragen, ein dreihörniger Widder taucht von Zeit zu Zeit auf. Immer tiefer wird der Bischofsvertreter in die Geheimnisse der archaischen Riten hineingezogen. Eine echte Spukgeschichte.

Doch mit Geistern und Legenden ist es ja so eine Sache. Sobald man versucht, sie in Bilder zu fassen, läuft man Gefahr, sie der Lächerlichkeit preiszugeben. So auch in diesem Fall. Der augenzwinkernde Humor, mit dem die Regisseurin die Romanvorlage verarbeitet hat, bewahrt den Film zwar vor mythischer Überfrachtung, nimmt der Geschichte insgesamt aber etwas von ihrer geheimnisvollen Aura. Gelungen sind vor allem die humorvollen Seitenhiebe auf eine geschäftsmäßig strenge Interpretation christlicher Glaubensätze. Für eine Begräbniszeremonie wird das verstaubte Gotteshaus geschrubbt wie beim Frühjahrsputz. Bei der Totenmesse dann fällt der barocke Leuchter mitten in den Sarg. Doch Pastor Jon kümmert das wenig. Er verkörpert einen anarchistischen, urchristlichen Geist, der Gott in allen Dingen verehrt („Schnellgefrierhäuser stehen Gott näher als die Seele“). Die skurrile Prozession zum Gletscher und die Auferstehung der in Islands Legenden allgegenwärtigen Frau Ua, deren kühlen Reizen der junge Vebi verfällt, wirkt dagegen weniger überzeugend. Allzu unvermittelt wird hier die beiläufig-leichte Erzählweise von einer dramatischen Woge überschwemmt, an deren Kulminationspunkt ein im höchsten Maße verwirrter Bischofsvertreter in ein düsteres Sturmtief rennt. Solche übersteigerte Symbolik paßt gut zu englischen Spukschlössern, im unterkühlten isländischen Ambiente wirken sie deplaziert.

utho