Das Ziel, in die Einheit einzugehen

 ■ Tibetische Kunst in Dahlem

Von Gunhild Schöller

Bunter Marmorsand, in einem über drei Meter großen Kreis, in ein feines, auf den ersten Blick ornamental wirkendes Muster gestreut. Ein sanfter Windhauch würde genügen, dieses tibetische Mandala zu verwehen. Auf den zweiten Blick sehe ich Geometrie: Systematisch angeordnete Rechtecke - der Grundriß einer Stupa, eines indischen Tempels, füllen den Kreis. Das Quadrat im Kreis - Symbol für die Einheit von Makrokosmos und Mikrokosmos. Zehn Tage lang streuten vier tibetische Mönche im Musuem für Völkerkunde in Berlin dieses fragile, vergängliche Werk zu Ehren ihrer Gottheit Kalacakra. „Rad der Zeit“ heißt Kalacakra auf Sanskrit, nach zwei Monaten wird das Sandmandala nach festgelegtem Ritus zerstört. Der Sand wird zusammengekehrt und in ein fließendes Gewässer gestreut - es kehrt zurück in den Kreislauf der Zeit.

Götter des Himalaya, eine Ausstellung über die Kunst der Tibeter, ist bis Mitte Oktober in den Staatlichen Museen in Berlin-Dahlem zu sehen. Die Exponate sind Teil der umfangreichen und bedeutenden Sammlung des Hamburgers Gerd -Wolfgang Essen. Im Gegensatz zur meistens fragwürdigen Sammelei der Kunstwerke fremder Völker macht das Sammeln tibetischer Kunst Sinn: Sie wurde nach dem Einmarsch chinesischer Truppen im Jahre 1950 weitgehend zerstört, die geretteten Kunstwerke sind weit zerstreut, und man kann sie nur selten, wie jetzt in Berlin, im Zusammenhang betrachten. Weil das Volk der Tibeter keinen eigenen Staat hat, sondern auf den Staatsgebieten von China, Indien, Nepal, Bhutan und Sikkim lebt, kann es seine Kunst und Kultur nicht selbst international präsentieren. Deshalb ist diese Ausstellung auch politisch: Sie zeigt die eigenständige kulturelle Identität der Tibeter, die die Chinesen auch in jahrzehntelanger brutaler Besetzung nicht auslöschen konnten. Sie gibt dem Betrachter eine Ahnung davon, welche Energie und Lebenslust diesen Menschen innewohnt.

Tibetische Kunst ist Ausdruck des tibetischen Buddhismus es gibt keine tibetische Kunst jenseits dieser spirituell -philosophischen Dimension. Der westliche Besucher ist davon häufig überfordert: Die Symbolik ist fremd, die dargestellten Personen sind unbekannt, gleichzeitig sind die Bilder von einer überbordenden Detailfülle, die bestenfalls ein Kind, aber kein Erwachsener aufnehmen kann. Besonders deutlich ist dieser gravierende Gegensatz zwischen östlicher und westlicher Kunst bei den Thangkas, auf Stoff gemalten Bildern, die man aufrollen kann. Wie soll die Betrachterin bloß den Thangka mit dem Titel Padmasambhava mit seinen acht Erscheinungsformen aus dem 18.Jahrhundert verstehen überall sieht sie diese gleichmäßig im Lotus sitzenden, lächelnden Gestalten. Es sind auch nicht acht, sondern zwanzig, und wer - bitte schön - ist eigentlich Padmasambhava? Den erklärenden Texttafeln und dem Katalog kann sie immerhin entnehmen, daß Padmasambhava ein berühmter indischer Gelehrter war, der den Buddhismus im 8.Jahrhundert nach Tibet brachte. Dort wird er als zweiter Buddha verehrt. Den Inhalt des Bildes aufnehmen kann die Besucherin trotzdem nicht. Sie kann nur die erstaunende, verwirrende Vielfalt auf sich wirken lassen. Denn Thangkas werden nicht gemalt, damit man sie betrachtet, sondern damit man darüber meditiere. Tibetische Mönche lernen Schritt für Schritt von ihrem Meister die Meditation in diese Bilder. Meistens stellen sie Weise oder Gelehrte, deren Inkarnationen und ihre Schüler dar. In einem mehrstufigen Visualisierungsprozeß lernt der Meditierende, den Weg zur eigenen Mitte zu finden. Manchmal ist unten auf dem Thangka der Meditierende abgebildet, zum Teil ist er identisch mit dem Maler oder Stifter des Thangkas. Die Künstler bleiben dabei stets anonym - denn es geht nicht darum, sich einen „Namen“ als Maler zu machen. Im Gegenteil: Das Ziel ist, in die Einheit einzugehen - nicht, sich als individuelles „Ich“ zu profilieren.

Andere Bilder sind für den westlichen Betrachter etwas leichter zugänglich - beispielsweise Bhavacakra, eine symbolische Darstellung des Lebensrads. Bhavacakras gehören zu den ältesten Bildtypen der buddhistischen Malerei, sie hingen in den Vorhallen der tibetischen Tempel und sollten auch denjenigen, die des Lesens unkundig waren, die Lehre Buddhas veranschaulichen. Deutlich erkennt man zum Beispiel ein Rad, verschiedene Lebensstationen und ein riesiges Ungeheuer, in dessen geöffnetem Bauch sich dieses Lebensrad befindet. Es ist eine Allegorie der Zeit in ihren beiden Aspekten - dem vergänglichen, verschlingenden und dem ewigen.

Weitere Thangkas in der Ausstellung Götter des Himalaya sind den Siddhas gewidmet. Siddhas würde man im Westen als „Heilige“ bezeichnen. Sie zeigten durch ihr praktisches Leben, daß der Weg zur Befreiung vom leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten (samsara) nicht nur den Mönchen, sondern prinzipiell jedem Menschen offensteht - auch den Frauen. Die Siddhas hielten sich nicht an die Regeln des Mönchslebens und praktizierten ihren eigenen religiösen Ritus. Siddhas waren Einzelgänger, die ganz ihrer inneren Stimme folgten einer Kraft, der im Buddhismus große Bedeutung zukommt. Denn im eigentlichen Sinne ist der Buddhismus keine Religion, sondern eine Lehre, die dem einzelnen zeigt, wo er steht, und wie er Erleuchtung erlangen kann. Deshalb gibt es auch keinen Gott und keine Götter, sondern „nur“ Weise, Lehrer, Meister, die die Tibeter „Lama“ nennen. Der Titel der Ausstellung Götter des Himalaya ist im Grunde irreführend.

Die Thangkas stellen meistens mehrere dieser Heiligen auf einem Stoffbild dar, zeigen Szenen mit ihren Schülern, betten sie ein in eine farben- und lebensfrohe, sehr weltliche Umgebung.

Präsentiert werden im Berliner Völkerkundemuseum auch zahlreiche Bronzestatuen, Schreine und Reisealtare. Das sind fensterlose kleine Schreine, auf der aufklappbaren Vorderseite mit dichter Symbolik, die auf Reisen mitgenommen wurden. Wertvoll an der Sammlung von Gerd-Wolfgang Essen, die hier in Teilen gezeigt wird, sind für den Besucher jedoch weniger diese einzelnen erlesenen Stücke, sondern die Tatsache, daß er sie im Zusammenhang sammelt und präsentiert. So werden sie nicht nur im Glaskasten als Einzelexponat, sondern auch in einem komplett eingerichteten Tempelraum gezeigt. Für jeden, der jemals eine tibetische „puja“, einen lamaistischen „Gottesdienst“, erlebte, wirkt dieser Tempel seltsam unbelebt und still - weil die fröhlichen Mönche, die erwartungsvollen Besucher, die mächtige Musik und der intensive Duft fehlen. All jenen aber, die sich zum ersten Mal mit tibetischer Kultur und Lebensart beschäftigen, gibt diese Ausstellung eine Ahnung davon, wie intensiv die Kultur Tibets ist.

Im Vorraum zur Ausstellung geben große Fototafeln einen Eindruck von der Atmosphäre im Himalaya. Eindrucksvolle Fotografien vom tibetischen Hochland, den Menschen und Tieren dort und eine riesige Stellwand vom Palast des Dalai Lama, aus dem er 1959 mit über 80.000 Tibern nach Indien fliehen mußte. Aber deutliche Worte oder Fotografien zur chinesischen Besatzung sucht man vergeblich. Selbstverständlich - das chinesische Regime wird erwähnt, aber wie bedroht die Tibeter und ihre Kultur sind, welche irreparablen ökologischen Schäden die Abholzung der Wälder durch die Chinesen verursacht, darüber wird nicht informiert. Unerwähnt bleibt auch der tibetische Widerstand, an dessen Spitze die Mönche und Nonnen stehen. An dieser Stelle ergäbe sich auch eine interessante Verbindung zum Thema der Ausstellung. Denn ohne ihre Verankerung im Buddhismus ist der gewaltfreie, aktive, todesmutige Widerstand dieser Menschen nicht denk- und erklärbar.

Zu spüren war diese ruhige, beharrliche Kraft, als ich das zweifellos schönste Exponat dieser Ausstellung, den Buddha Sakyamuni betrachte. Diese kleine feuervergoldete Statue aus dem Tibet des 16.Jahrhunderts ist die in Form gegossene Energie aus Kontemplation und Konzentration. Ich stehe vor dem Buddha und habe augenblicklich den Wunsch, vor ihm und mit ihm zu meditieren. Die linke, im Schoß ruhende Hand des Buddha zeigt, mit der Innenfläche nach oben, die Geste der Meditation. Die rechte Hand aber weist nach unten - auf die Erde. Als der historische Buddha im 5.Jahrhundert v.u.Z. die Erleuchtung erlangt hatte, rief er nicht himmlische Götter als Zeugen an - sondern die Erde. Der tantrische Erlösungsweg ist keine Flucht aus der Welt, sondern, über die umfassende Selbsterkenntnis, ein Weg zur Weltmitte, zur Vereiniung der Gegensätze - zu beschreiten in Berlin -Dahlem.

Die Götter des Himalaya, Buddhistische Kunst Tibets. Sonderausstellungshalle der Staatlichen Museen, Lansstr.8, Berlin-Dahlem, noch bis zum 14.Oktober.