Ungeheuer zusammengeführt

 ■ Psychiater in Kassel mit Kunst behandelt

Von Gertrud Salm

Es gibt noch echte Überraschungen. Beispielsweise lädt ein städtisches Gesundheitsamt zum Zwecke der Völkerverständigung lauter ausländische Psychiater aus Partnerstädten ein. Sie sollen sich darüber austauschen, wie denn die Irren aus Europa wieder zurück in die jeweiligen Gemeinden kommen. Und damit die Sache richtig gut wird, bekommt eine psychiatrieerfahrene Künstlerin den Auftrag, die Unternehmung zu bereichern.

Da waren die Herren und Frauen Psychiater aus Finnland, Italien, der UdSSR und der DDR doch überrascht, daß sie zum Auftakt der einwöchigen Veranstaltung „Der Weg zurück in die Gemeinde - Lebensumstände von psychisch Kranken“ in Kassel zuallererst die Stadt Kassel besichtigen konnten. Die Stadtrundfahrt begann zu Fuß. Während sich der Pulk von Fachleuten den örtlichen Sehenswürdigkeiten näherte, saß ein Mann auf einem weißen Stuhl und hielt mit Hilfe eines Fernglases Ausschau nach der Gemeindepsychiatrie. Er folgte samt Stuhl und Durchblicker der Gruppe so auffällig, daß den Psychiatern nichts auffiel. Auch auftauchende Masken (alle von Psychiatrisierten in freier Arbeit angefertigt) auf Treppen und hinter Büschen konnten die Gehenden nicht weiter ins Stocken bringen. Erst als eine Dame mit einem leeren Rahmen den Spaziergängern direkt auf den Leib rückte, um bei ihnen nach dem richtigen Ausschnitt fürs Leben zu suchen, zeigten sich erste Verstörungen. Die Russen hielten das für totalen Quatsch, dem Finnen hatte es ein plötzlich auftauchender Querflötenspieler angetan, der Rest tappte weiter. Wirklich hinderlich war eine Frau, die den ganzen Weg danach ausmaß, wieviele Schritte denn nun in die Gemeinde gemacht werden dürften. Endlich am Bus und damit in Sicherheit, wurde die Truppe zu einer weiteren Sehenswürdigkeit kutschiert. Zur einzigen alternativen Holz und Kunstwerkstatt für Psychiatrisierte in Kassel.

Während man die Früchte alternativen Arbeitens mit Irren bestaunen durfte, verklebten die boshaften Künstler die Fensterscheiben des Busses mit Papier und ließen nur kleine Ritzen übrig, damit sich alle mal recken müssen, um in die Gemeinde zu blicken. Das war den Fachleuten für sanitäre Aufbewahrung an Selbsterfahrung dann doch zuviel. Sie rissen nach Betreten des Busses die Verklebung in höchster Eile herunter, ohne auf die kleinen Scheren aus der Beschäftigungstherapie zu warten, mit denen sie sich ordentlich die Sicht freischneiden hätten können. Was Sabine Stange (Künstlerin) zu der legendären Äußerung hinriß: „Wieviel Aussicht braucht der Fachmensch?“ - Die Fahrt endete dann in einer regelrechten Irrenanstalt. Dort fühlten sich die Teilnehmer endlich richtig heimisch. Der Anstaltsdirektor zeigte in brillanter Weise, wie nützlich und hilfreich seine Klinik für manche ist. Ein Italiener überlegte daraufhin, wieso dann die Leute noch drin seien.

Anschließend folgte ein Höhepunkt dem nächsten. Beim offiziellen Empfang der Stadt Kassel mit Modenschau, Bankett, Tanzmusik und WM-Direktübertragung ging es hoch her. Am nächsten Tag stand Hospitation an, das heißt, alle Gäste kamen in eine psychiatrische Einrichtung ihrer Wahl, damit die Gäste in drei Tagen wirklich sehen konnten, wie es wirklich ist. Zum Ausgleich bot man eine echte Vernissage, organisiert von der beauftragten Künstlerin. Vier Gruppen aus dem Reich der Psychiatrie stellten aus: die Kulturkooperative „La Tinaia“ (Florenz), aus Bremen die „Blaumeier's“, die „Kulturwerkstatt Hafenstraße“ (Kassel) und zwei Gruppen der „Brücke“ (Neumünster). Die Ausstellung hatte nichts von den sonst peinlichen Veranstaltungen zum Thema „Unsere psychisch kranken Mitbürger“. Bilder, Masken, Töpfereien wirkten ohne tröstende Worte. Die Ausstellungsstücke waren groß, farbig, witzig und schön. So schön, daß am nächsten Tag die tollsten Exponate von schnellen Käufern eingesteckt wurden. Die Großzügigkeit der Ausstellung hängt sicherlich mit der Zusammenarbeit von Kunstprofis und verrückten Dilettanten zusammen, aber auch damit, daß die Kunstgruppen nicht in psychiatrischen Institutionen und am Sozialtropf hängen. Im Gegenteil. Die meisten sind aus der antipsychiatrischen Bewegung (Italien/BRD) entstanden und lehnen die jetzige psychiatrische Versorgung ab. Da hat sich im Laufe der Jahre eine Unterkultur entwickelt, die ohne Zwangsnormalisierung auskommt und Platz schafft für Abartigkeiten. In Kassel konnte man das live sehen. Die italienisch-deutschen Aussteller jedenfalls waren vorwiegend auf der Fünf-Tage -Ausstellung anzutreffen und verstanden sich trotz holprigen Englischs ausgezeichnet.

Daß da eine ungequälte Irrenkultur im Entstehen begriffen ist, konnten nun die Psychiater nicht recht einordnen. Die östlichen Vertreter lösten das Problem einfach. Sie fanden das nebensächlich und konzentrierten sich auf die öffentlichen Einrichtungen wie Groß„kranken„haus, Tagesklinik, Beratungsstellen, Wohngemeinschaften und so weiter. Die DDRler kamen zu dem Schluß, daß dieses verzweigte Versorgungsnetz für ihre Bürger nicht geeignet sei, weil zu verwirrend und undurchsichtig. Der süße Finne Antii Liikkanen wagte erste Diagnosen: „Die deutsche Organisation ist sehr zersplittert und so kompliziert, wie es nur psychiatrische Patienten selbst sein können. Die Zersplitterung in Deutschland dient vermutlich dazu, daß keine Diktatur mehr kommen kann.“ Deswegen gefiel ihm die Vielfalt, besonders die Künstler: „Die Künstler haben jenseits der Fachwelt etwas verstanden, was nur Künstler sehen können.“ In Finnland, meint er, sei das alles nicht möglich. „Die Anstalten seine hermetisch abgeriegelt, es herrscht die Medizin, und kein Normaler will was mit einem Irren zu tun haben. Das hängt wohl mit der arktischen Persönlichkeit zusammen. Sie sparen, machen Liebe nur sonntags, nach der Sauna, und trinken allein. Nur vom 1. Mai bis 22. Juni machen sie das alles gemeinsam. Dann ist Sommer.“

Was dem Finnen gefiel und ihm als einzigem ein schlechtes Gewissen einjagte (es geht auch ohne Medizin), konnten die UdSSRler gar nicht gut finden: „Die Bürgerbeteiligung in den Gemeinden ist nicht gut. Fachleute müssen entscheiden.“ Daß Psychologen und Sozialarbeiter mitarbeiten, fanden sie in Ordnung (vermutlich meinten sie mit „Bürger“ die eineinhalb alternativen Einrichtungen in Kassel). Sie haben stattdessen etwas völlig Unbekanntes: „Seit zwei Jahren gehen die Psychiater in die Betriebe und Polikliniken und fangen dort das psychiatrische Klientel auf (oder ab?). In den Schulen und Betrieben werden psychologische Dienste eingerichtet, und auch in die Familien gehen wir hinein.“ „Eine schwierige Aufgabe“, meinte ein Tomsker. Mit dem Hinweis, daß damit nurmehr Personen der Psychiatrie zugeführt würden, die sonst noch irgendwie durchkommen, konnten sie nichts anfangen. Sie standen fest hinter der Anstalt, der Forschung und der Überzeugung, daß sie irgendwann genau wissen würden, wie der Wahnsinn zustande kommt.

Und damit war überdeutlich, daß Gemeindepsychiatrie für den größten Teil der Delegationen überhaupt kein Thema ist. Und wenn sie verstanden hätten, daß manche Beteiligten die Psychiatrie ganz auflösen wollen, dann wäre das Chaos perfekt gewesen. Es war ihnen schon so völlig unverständlich, was die Kasseler da treiben. Normalerweise sind das die besten Voraussetzungen für erbitterte Grabenkämpfe. Aber nein, sie lobten Kassel, besonders die wunderbare Organisation der Tagung: „Wir sind uns bewußt, daß wir es hier mit den führenden Größen der Sozialpsychiatrie zu tun hatten. Es war ein wichtiger Kongreß.“ (V.Ja. Semke, Tomsk) Sie verglichen die Psychiatrieszene keß mit dem liberalen Holland (Antii Liikkanen, Rovaniemi). Und sie fanden die Kasseler Psychiatrie tollkühn fortschrittlich.

Das ist ja alles ziemlich konfus. Selbst die mutigen Veranstalter vom Gesundheitsamt waren von den konservativen Städtepartnern überrascht. Eigentlich hatten sie ja vorgehabt, sich in aller Vorsicht über die Probleme der Gemeindepsychiatrie zu unterhalten, aber - von Gemeinde keine Spur. Daß „es“ trotzdem etwas hatte, schrieb der Koordinator für Psychiatrie der Kunst zu: „Die hat ungeheuer zusammengeführt.“

Eine weitere Erklärung für das rätselhafte Verhalten zumindest der Tomsker fand ein Ost-Experte in Sachen Psychiatrie: „Die haben dich mit dem Parteiorgan verwechselt und eine offizielle Stellungnahme abgegeben. Für sowjetische Verhältnisse herrschen in Tomsk paradiesische Zustände.“ Und dann erzählte er Dinge, die man im Moment besser noch nicht veröffentlicht. Die Tomsker haben übrigens doch noch Gefallen an der Kunst gefunden und die Florentiner nach Sibirien eingeladen. Und anscheinend haben die Italiener Tomsk für ein Dorf am Mittelmeer gehalten. So wie die schon in Deutschland frieren, seh‘ ich dafür sibirisch.

Hervorragend, wenn ein Gesundheitsamt Veranstaltungen veranstaltet, die für alle Beteiligten gleichermaßen unkalkulierbar sind. Das soll fortgesetzt werden. Auskünfte erteilt:

Peter Ludwig Eisenberg, Koordination der Gesundheits- und Behindertenhilfe, Rathaus, 3500Kassel