Auf niemandes Schultern

■ Heute feiert der Komponist Ernst Krenek seinen 90.Geburtstag

Er hat die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts durchmessen wie kaum ein anderer: Ernst Krenek, der „amerikanische Komponist österreichischer Abstammung“, Jahrgang 1900. Mit sechzehn studierte er in Wien bei Franz Schreker, folgte diesem dann nach Berlin und fand Zugang zu den Zirkeln von Ferruccio Busoni und Hermann Scherchen. In den kunstrevolutionären Bestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich der zornige, junge Mann zu einer treibenden Kraft. 1921 schon sorgte Kreneks Erstes Streichquartett durch die Methode der Dissonanzbehandlung für Aufsehen. Durch den spektakulären Erfolg seines fünften Bühnenwerks war er erst einmal ein gemachter Mann: Jonny spielt auf sorgte 1927 für Skandal und Beifallstürme.

Durchaus mit Gespür für den Umwälzungsprozeß in der Kunstlandschaft und in heftiger Abwehr der Herausforderungen, die sich mit Musikern wie Krenek dem vom Nachhall des 19.Jahrhunderts geprägten Musikleben stellten, schrieb Friedrich Welter: „Ein Komponistentyp tauchte auf, (...) Tonsetzer, die a priori fertige Meister waren, keinem Vorgänger etwas zu danken hatten, auf niemandes Schultern standen - gewissermaßen Narren auf eigene Faust. Gescheite Köpfchen, die nur merkwürdigerweise zwischen so elementaren Dingen wie Choral und Foxtrott nicht zu unterscheiden vermochten.“

Krenek, ein Mann mit literarischem Talent und musikalisch hochbegabt, wußte sehr wohl zwischen den Gattungen, Stilmitteln und Interessenssphären in der Musik zu unterscheiden: Das Heterogene wurde absichtsvoll zusammengebracht; dem gesellschaftlichen Gärkessel der zwanziger Jahre entsprachen seine mit leichter Hand entwickelten Mixturen als wahre „Zeitkunst“.

Ein Lebenswerk von erstaunlichem Umfang und außerordentlicher Breite hat Ernst Krenek in sieben Jahrzehnten zu Wege gebracht: Symphonien, Konzertstücke, Klavier- und Kammermusik. Die Spannweite reicht von der Doppelfuge für Klavier des Achtzehn- bis zur Feiertagskantate des Fünfundsiebzigjährigen, von knappen Hölderlin-Vertonungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg über eine neue Sommernachtstraum-Musik aus der Mitte der zwanziger Jahre und andere entschieden moderne Bühnenmusiken bis zu Lamentation Jeremiae von 1942, der Sante Fe Timetable 1945, den Motetten nach Texten von Franz Kafka aus dem Jahr 1957 und der Deutschen Messe des Jahres 1968. Chroralvorspiele und Szenen aus dem Westen für Schulorchester, ein großes Kontingent an Liedern, Klavierminiaturen und eine lange Liste von Aufsätzen - ein überaus produktives Leben. Aber auch diese Komponistenbiographie hat durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts Schaden erlitten. In den dreißiger Jahren wurde er als „jüdisch verheirateter“ Musiker geächtet, als Radikaler aus dem Konzertleben getilgt; besonders verübelt wurde dem „Judengenossen“ die Einmischung von Jazz in seinen Jugendwerken.

Ende der zwanziger Jahre war Krenek nach Wien zurückgekehrt, nachdem er für Wiesbaden einen tragischen Einakter, Der Diktator, geschrieben hatte - eine Abrechnung mit Mussolini, auch den burlesken Einakter Schwergewicht, oder Die Ehre der Nation. Er probierte das überschäumende Talent nach verschiedenen Richtungen aus, verfaßte eine Reisebuch aus den österreichischen Alpen in der Tonlage von Schuberts Winterreise und näherte sich, nach anfänglicher Polemik, der Zwölftontechnik an, trat in engeren Kontakt mit Alban Berg und Anton Webern, wurde gläubiger Katholik.

Aus dem Geist des neukonsolidierten Glaubens schuf er die große Oper Karl V., die freilich, obwohl von der Wiener Staatsoper in Auftrag gegeben, in Österreich nicht mehr aufgeführt werden konnte. 1938, kurz vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht, kam sie in Prag heraus. Mit einer Orchestrierung von Monteverdis Krönung der Poppea kam Krenek in die Vereinigten Staaten; vor Hitlers Armee fliehend kam er als Kompositionslehrer in Boston unter, dann in St. Paul; 1945 wurde er US-Bürger und zog nach Kalifornien. Von dort aus mischte er sich in das Musikleben im Nachkriegsdeutschland ein: Pallas Athene weint, 1955 in Hamburg uraufgeführt, wurde als politischer Kommentar durchaus wahrgenommen.

Dann wurde es ruhiger um den Komponisten. Freilich hat es an Bemühungen um sein Werk in neuerer Zeit nicht gefehlt. Kaum eine Konzertreihe zur „emigrierten Musik“ verzichtet auf die Einbeziehung von Kreneks Musik. 1988 präsentierten die Salzburger Festspiele mit 53 Jahren Verspätung die Uraufführung des Oratoriums Symeon und Stylit, das Krenek Mitte der dreißiger Jahre nach einem Text Hugo Balls geschrieben hatte; ein Werk, dessen Wucht, Intensität und Klangfarbenreichtum durchaus mit Schönbergs Moses und Aron zu vergleichen ist.

In Bielefeld wurde im vergangenen Jahr der Opernerstling Der Sprung über den Schatten von 1923 zum Hochsprung aus dem Schatten: Die Opernfarce, dessen Text - von Krenek - die letzte Phase der Habsburger Monarchie und die Wiener Zustände am Anfang der zwanziger Jahre ausgelassen parodierte und mit einer fröhlichen Musikmischung aufmöbelte. Die Frische, der Nonkonformismus und die ironische Schärfe eines solchen Werks erscheint heute wirkungsvoller zu reaktivieren als die größten Kunstanstrengungen Kreneks. Die freilich werden auch in Zukunft mit all ihrem Schillern einen Hauptstrang der ernsten Musik im 20. Jahrhundert dokumentieren: den Ton der Klage, der das Erbe der expressionistischen Ära bleibt.

Frieder Reininghaus

Ernst Kreneks Opern werden in der kommenden Spielzeit in vielen Städten aufgeführt, u.a. „Johnny spielt auf“ als Eröffnungspremiere in Leipzig (27.September) und der noch nie aufgeführte Einakter „Ausgerechnet und verspielt“. Stuttgart widmet dem Komponisten vom 16. bis 23.November „Tage der Neuen Musik“.