„Berlins Situation in einem eigenen Vertrag regeln“

■ Staats- und Völkerrechtler Dr. Dr. Mengel spricht sich gegen die bloße Übernahme der Westberliner Verfassung für den Ostteil der Stadt aus

INTERVIEW

Die zeitliche Distanz zwischen dem Beitritt der DDR und dem Wahltermin am 2. Dezember bedeutet für Berlin ein verfassungsrechtliches Vakuum, für das es keine konkreten Regelungen gibt. Die taz sprach mit Dr. Dr. Hans-Joachim Mengel, Professor für Staats- und Völkerrecht am Otto-Suhr -Institut der FU, über die Probleme für Berlin.

taz: Mit dem Beitritt der DDR ergeben sich für Berlin Probleme, die in keinem anderen Land auftreten. Die Fragen: Wer regiert die Stadt, welche Verfassung gilt nun, hätte sich das alles vermeiden lassen können?

Hans-Joachim Mengel: Zu dem verfassungs- und völkerrechtlichen Chaos, das jetzt angerichtet worden ist, hätte es eine Alternative gegeben - und zwar die Vereinigung nicht auf der Grundlage von Artikel 23, sondern von Artikel 146 des Grundgesetzes. Artikel 23 ist und war von Anfang an für diese Art von Vereinigung nicht geeignet: Zwei Systeme stehen sich nach vierzig Jahren als souveräne Staaten gegenüber, spätestens mit Abschluß des Grundlagenvertrages war Artikel 23 nicht mehr anwendbar. Für diese Situation gibt es im Völkerrecht ein Instrumentarium, das vorsieht, daß sich zwei Staaten zusammenschließen, etwa über den Weg eines Staatenbundes. Auch der Artikel 146 sieht nur vor, daß das Grundgesetz an dem Tag außer Kraft tritt, an dem sich das gesamte deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung gegeben hat. Über den Fall der Wiedervereinigung ist auch dort nichts gesagt. Die Alternative wäre gewesen, einen Staatenbund - auch für sehr kurze Zeit - zu gründen mit dem Ziel des Übergangs in einen Bundesstaat, auf den langsam Souveränitätsrechte auf gemeinsame Verfassungsorgane zu übertragen sind.

Wer regiert nach dem 3. Oktober Groß-Berlin? Gilt die Westberliner Verfassung dann automatisch in ganz Berlin?

Die Westberliner Verfassung von 1950 erhebt den Anspruch, für ganz Berlin zu gelten, praktisch war das bisher unmöglich. Das ist ein Problem, denn Ost-Berlin hat jetzt seit dem 11. Juli auch eine demokratisch legitimierte Verfassung. Es gibt jetzt verschiedene Möglichkeiten: Zwei Stadtparlamente existieren nebeneinander, das ist die Position der AL und der SPD. Dann gibt es die Position, die Herr Professor Finkelnburg vertritt, der sagt, das Parlament im Osten geht unter. Dann gibt es noch eine modifizierte SPD-Position, die besagt, beide Parlamente nehmen nur noch die nötigsten gesetzgeberischen Rechte wahr und fassen gleichlautende Beschlüsse.

Um mit dem letzten Punkt anzufangen: Besteht nicht die Gefahr, daß sich die Parlamente ihrer Kompetenz berauben? Die CDU hat sogar vorgeschlagen, beide Parlamente mit dem Tag des Beitritts in Urlaub zu schicken.

Diese Position ist verfassungsrechtlich absolut unhaltbar. Entweder hat man ein Parlament, dann hat es souveräne, unbeschränkbare Rechte, oder man hat kein Parlament. Ein Mittelding gibt es nicht. Verfassungsrechtlich ist es unmöglich, daß sich ein Parlament seiner Rechte entblößt, mit guten Gründen. Gedacht ist dabei an den Fall autoritärer Regierungen, die die Rechte des Parlamentes an sich zu ziehen versuchen. Eine eingeschränkte Kompetenz zu konstruieren ist verfassungsrechtlich außerordentlich bedenklich - mit Ausnahme der Übertragung von Kompetenzen auf internationale Organisationen.

Also zwei Parlamente nebeneinander?

Auch diese Position ist unhaltbar. Grundsätzlich bedeutet die Ausdehnung des Grundgesetzes gemäß Artikel 23 nicht automatisch den Untergang aller verfassungsrechtlichen Institutionen auf dem Gebiet der DDR. Jedoch gilt dies nicht für Institutionen, die in Konkurrenz zu den bestehenden Verfassungsinstitutionen der Bundesrepublik treten, denen für das gleiche Gebiet die gleiche Verantwortung zukäme. Dies ist bei der Volkskammer und auch bei der Stadtverordnetenversammlung der Fall. Legislativkompetenz kann für ein Gebiet, das politisch und wirtschaftlich zusammengehört, nicht von konkurrierenden Institutionen wahrgenommen werden. Sie ist unteilbar und kann auch nicht für eine Übergangszeit geteilt werden.

Bleibt noch die Position der CDU ...

Auch diese Position ist unhaltbar, denn die Bevölkerung im Ostteil der Stadt muß in irgendeiner Weise repräsentiert sein, und das wäre in diesem Fall nicht gewährleistet.

Gibt es überhaupt noch eine Alternative?

Meine Lösung wäre folgende: Diese Si tuation müßte in einem Vertrag geregelt werden.

In einem Vertrag zwischen Ost- und West-Berlin?

Ja, entweder in einem Vertrag zwischen Ost- und West-Berlin über die Repräsentanz der Bevölkerung in diesem Zeitraum oder in einer Regelung im sogenannten Einigungsvertrag, also im zweiten Staatsvertrag. Das wäre natürlich schwierig und auf den ersten Blick zeitaufwendig, aber das wäre die einzig saubere Lösung. Das kann dann auch so geregelt werden, daß Abgeordnete von hüben und drüben zusammensitzen, wie es auch für den Bundestag vorgesehen ist.

Welche Lösung würden Sie auf Regierungsebene vorschlagen?

Das müßte ebenfalls in dem Vertrag geregelt werden: Die beiden Exekutiven werden ebenfalls zusammengelegt für diese kurze Übergangszeit, da sehe ich keine größeren Probleme.

Interview: Kordula Doerfler