Vorläufige in Südamerika

 ■ Zu den Erzählungen des uruguayischen Autors Juan Carlos

Onetti

Von Martin Kurbjuhn

In der Titelerzählung des Buches So traurig wie sie von Juan Carlos Onetti wird die langsame, quälende Auflösung einer Ehe beschrieben, eine Zerstörung, die gewissermaßen hinter dem Rücken der Figuren vorgeht, von ihnen nicht oder doch nur selten beeinflußt werden kann. Die Frau hat ein Kind von einem anderen Mann namens Mendel. Ihr Mann, mit dem sie im Haus ihrer Kindheit zusammenlebt, spielt auf Mendel immer wieder an. Er könne ihn, sagt er, wegen gefälschter Papierte ins Gefängnis bringen. Mendel wird zu einem Beispiel, durch das er die Schuld der Frau am Verfall ihrer Beziehung beweisen zu können glaubt, ein aus der Ratlosigkeit kommender Versuch, rationale Erklärungen zu finden. Mendel, diese längst vergessene Figur, erscheint als eine von vielen Möglichkeiten, wenigstens vorübergehend der Unerträglichkeit ihres Schweigens zu entgehen.

Schon hier zeigt sich, daß die bloße Inhaltsangabe der Erzählung nicht mehr sein kann als eine ziemlich dürre Andeutung ihrer tatsächlichen Komplexität. Nicht das Ereignis spielt bei Onetti die zentrale Rolle, sondern seine Funktion, die es zwischen den Menschen zu erfüllen hat, eine Funktion, von der sie gar nichts zu wissen brauchen. Sie verändert sich dauernd unterhalb ihrer Bewußtseinsschwelle, sie ahnen nur, warum sie in einem bestimmten Moment solche Beispiele benutzen. Die realen Details der Geschichte fallen in der Montage unmittelbar zusammen mit einer niemals aufdringlichen Symbolik. Die Figuren verkehren auf verschiedenen Ebenen miteinander. Sie haben das Material ihres gemeinsamen Lebens in einen symbolischen Code verwandelt, dessen Reichtum und Variabilität ihnen verborgen bleibt, nach dem sie sich aber richten. Sie sind ohne Absicht, ohne Plan in ein System von Abhängigkeiten geraten, das sie nicht durchschauen, einfach deshalb, weil es von ihnen gelebt wird.

Der Mann verkauft tagsüber Ersatzteile für Traktoren, Autos usw. und verbringt die Abende mit anderen Frauen, während sie auf ihn wartet, „mit einem immer schlecht gewählten Buch“, wie es heißt. Er schießt mit der Pistole seiner Mutter, vielleicht auch seiner Großmutter, auf eine Blechbüchse im Garten. Die Pistole versagt. Schlecht gelaunt wirft er sie in Gegenwart der Frau in einen Winkel des Wäscheschranks. Er sagt: „Es gefällt mir nicht, daß du hier allein bist, des nachts, und nichts hast, womit du zu verteidigen bist. Aber ich werde mich noch heute darum kümmern.“ Die Frau wird sich mit dieser Pistole viel später erschießen.

Die Nacherzählung vergröbert solche Zusammenhänge, gibt ihnen den Anschein der bewußten Steuerung. Der Schrecken der Geschichte liegt jedoch gerade in dem Nichtwissen der Figuren über ihre eigenen Motive und Ziele. Die wäre leicht als Darstellung einer sadomasochistischen Beziehung zu interpretieren, eine im übrigen sehr häufigen Charakterstruktur der Personen in Onettis Erzählungen. Solche Erklärungen wären auch nicht falsch, sie verfehlen aber die Wirklichkeit der Figuren. Die Faszination der Geschichten entsteht, indem Onetti sich nicht einfach eine Perspektive aneignet, sondern aus dem Lebenszentrum der Personen zu sprechen, die Intensität ihres Erlebens im Augenblick der Entstehung zu erfassen scheint. Die psychologische Differenziertheit gehört zu den selbstverständlichen Voraussetzungen der Erzählungen. Von ihrer literarischen Umsetzung, die sie erst befreit vom Geschmack bloßer Theorie, hängt hier alles ab. Und da fällt auf, wie in den Bildern dieser Prosa, der Methode äußerster Reduktion und Zuspitzung, ganze Lebensabschnitte bis zur Aufhebung der Zeit konzentriert sein können:

Eines Tages hat der Mann die Idee, den verwilderten Garten, den die Frau liebt, betonieren zu lassen. Er will Aquarien bauen, seltene Fische züchten. Er sagt zu der Frau: „Es gibt Leute, die damit viel Geld verdienen.“ Die Frau nimmt an, daß der Mann lügt. Sie läuft in der Dämmerung in ein paar übriggebliebene Dornenbüsche, bringt sich selbst Verletzungen bei. Sie beobachtet die Arbeiter aus dem Fenster des Kinderzimmers, hinter ihr das schreiende Baby. Sie geht mit einem der Männer ins Bett. Es geht nicht, „denn sie waren auf die endgültige, unheilbare, kapriziös verschiedene Art erzogen worden“. Sie versucht es mit einem anderen Brunnengräber, der, nackt, zu einem hilflosen, ängstlichen Kind wird, den sie im Geräteschuppen ohrfeigt, bespuckt, mit Pfiffen wie einen Hund lockt. Das dauert etwa drei Wochen, und sie hat ein Gefühl von Lebendigkeit. Dann begreift sie, „fatal und langsam“, wie es heißt, daß sie „von der verzweifelten Sexualität zur Notwendigkeit der Liebe zurückkehren muß“.

In Onettis Prosa scheint ein unerreichbares Ideal auf: Menschen so zu schildern, daß in jedem Moment der Darstellung ihre ganze Geschichte mitschwingt. Die Erzählungen fordern den Leser auf, eine Einfühlung zu riskieren, die ihn irritieren muß, weil er häufig mit der inneren Normalität pathologischen Verhaltens konfrontiert wird und nicht mehr weiß als die Figuren, weil er genau wie sie die Wirklichkeit bruchstückhaft, oft in krassen Zeitverschiebungen und subjektiven „Verfälschungen“ erfährt. Es gibt hier keine Objektivität, aber das Subjektive hat, ohne Strukturierung durch ein intaktes soziales Bezugssystem, eine schlechte Unendlichkeit, die die Figuren verwirrt, sie überfordert, endgültig zurückverweist auf die eigene Person und in zunehmende Selbstentfremdung treibt.

Sie sind frei. Es ist die Freiheit der Überflüssigen. Sie werden nicht gebraucht, von niemanden. Und wenn sie gebraucht werden, geraten sie in eine Abhängigkeit, die sie zerstört und ihren Konflikten einen ausweglos privaten Charakter gibt. Sie existieren wie in einem lautlos explodierenden Raum. Daß sie in einer gesellschaftlichen Grauzone zwischen den Klassen oder am Rand der künstlich geschaffenen Bourgeoisie in einem neokolonialistischen Land zu leben gezwungen sind, deformiert sie psychisch, steigert aber zugleich die Sensibilität ihrer Wahrnehmung. Sich selbst abstrakt geworden, empfindlich für die Verwahrlosungserscheinungen im alltäglichen Zusammenleben, entwurzelt, einsam und angetrieben von einem besessenen Glücksverlangen, geraten sie in eine Zwischenwelt der permanenten Melancholie. Dieser Zustand prägt ihre Perspektive, zerreißt Zusammenhänge, zerlegt die Umgebung, die Menschen in Einzelheiten, hebt Gesten, Worte, Haltungen hevor, setzt gegen die Betäubung der Depression den überscharf erlebten Augenblick, das leuchtende Detail, die hartnäckig festgehaltene Erinnerung.

Ob die Figuren von einer Erinnerung, einem Gegenwartseindruck oder von einer Zukunftsvorstellung beherrscht werden, bestimmt nicht den Grad ihres gefühlsmäßigen Engagements. Im Bereich der Emotionen gilt nicht die äußere Zeiteinteilung. Sie gilt schon deshalb nicht, weil diese Flucht nach innen nichts mit dem Wunsch nach Selbstverwirklichung zu tun hat, sondern umgekehrt eine fundamentale Hilflosigkeit ausdrückt, die mit der Isolierung wächst. Sie geraten in entlegene Gebiete, in denen psychologische und damit auch moralische Verbindlichkeiten ihren Wert verloren haben. Die zerstörerische Kraft ihres eigenen Unbewußten überfällt sie unerwartet, ausgelöst durch schockartige Erfahrungen. Und diese plötzlich ins Bewußtsein tretenden, lange verdrängten Gefühle korrespondieren bei Onetti oft genug mit der Gewalt äußerer Einflüsse. Die Maßstäbe des Alltagsbewußtseins sind außer Kraft gesetzt.

Die Personen, eingeklemmt zwischen den unheimlichen Erregungen, die da in ihnen hochkommen, und einer Umwelt, die wie die Realisierung ihrer schlimmsten Projektionen wirkt, scheinen sich aufzulösen. Sie sind mit einem sozialen System konfrontiert, das ihnen jede vertretbare Anpassung verweigert. Es ist ein System des bloßen Scheins, von fremden Interessen ausgehalten, ohne nationale Kontinuität, ein verwesendes System ohne Integrationskraft, einzig zusammengehalten von einer strukturellen Gewalt, die sich periodisch in wilden Exzessen entlädt. Die Orientierung der herrschenden Vertreter an europäischen oder nordamerikanischen Lebensvorstellungen wird von Onetti in knappen Szenen angedeutet und parodiert. Was ihn aber mehr interessiert, ist der Mechanismus der Entfremdung, der aus dem Widerspriuch zwischen der formalen Souveränität und der tatsächlichen Abhängigkeit des Landes entsteht.

Die Menschen leben in ausgeborgten Verhältnissen. Und das betrifft keineswegs nur die ökonomischen Beziehungen und die politischen Karnevalsveranstaltungen unter dem Stichwort „Demokratie“. Die Lebensbedingungen, auch ihrer ideologischen Prägungen, erscheinen interessant als Provisorium, allerdings als ein Provisorium, das zugleich bedrückend real und auf die Einzelnen undurchdringlich massiv wirkt. Sie haben es mit einer Mischung aus Scheindynamik und einer langandauernden Stagnation zu tun, mit den drohenden Schatten endloser Widerholungen. Sie existieren in einer Gesellschaft, deren herrschende Klassen nur die kleinere Ausgabe und die Karikatur ihrer ausländischen „Mutterklassen“ sind, bei allen Differenzen. Diese stehen vor der unmöglichen Aufgabe, den neokolonialistischen Vampirismus als Verwirklichung der nationalen Identität zu verkaufen. Vom Standpunkt der herrschenden Klassen und ihrer militärischen Praktiker aus kann die Lösung solcher Widersprüche nur die nach innen gerichtete Gewalt sein und das regelmäßig wiederholte Versprechen einer glücklichen Zukunft. Die perfekte Leere derartiger Versprechen und die konfliktträchtige, sich von Zeit zu Zeit zu Alpträumen verdichtende Realität müssen zu einer Aushöhlung aller Wertvorstellungen führen, zu einer tiefen Zerrüttung des Alltagslebens. Umgekehrt werden diese Lähmung, dieses gegenseitige Mißtrauen, dieser stumme Zwang der sozialen Verhältnisse zu Voraussetzungen für ein Herrschaftssystem, das sich allein mit direkter Repression auf Dauer nicht halten kann.

Das Altern beginnt früh unter diesen Bedingungen, es folgt unmittelbar der Jugendzeit. Onettis Figuren werden nicht erwachsen, sie vergreisen in mittleren Jahren. Die sogenannte Zeit der Reife fehlt. Die Welt der Erwachsenen, ihre soziale Etablierung und Einordnung, bedeutet hier Erstarrung, Feigheit, Verrat und Selbstaufgabe. „Ein gemachter, also erledigter Mann“, sagt in der Geschichte Willkommen, Bob! die Titelfigur zum Ich-Erzähler, der ihn später in der „schrecklichen, stinkenden Welt der Erwachsenen“ begrüßen wird. Erfolg im bürgerlichen Verständnis zerstört die Vitalität der Personen, löscht sie aus, verurteilt sie zum Absterben. Er ist, mit einem Wort, tödlich. Ein merkwürdiger Erfolg. Er setzt die Bereitschaft voraus, nicht zu leben. Es wäre deshalb ganz unzureichend, hier nur antibürgerliche Affekte zu vermuten.

Onettis Prosa hat eine sehr anspielungsreiche symbolische Ebene, die die persönliche Geschichte der Figuren überschreitet und in die politische Geschichte hineinreicht. Seine Darstellung der Jugend, die kein Bewußtsein ihrer wirklichen Möglichkeiten besitzt, des Alters, in dem alles zu spät ist, der leeren, in sinnloser Aktitivät verbrauchten Zwischenzeit, legt es nahe, eine Parallele zur historischen Entwicklung eines südamerikanischen Landes zu ziehen: Man hat ihm die Kraft geraubt, seine nationalen Energien unterdrückt, ehe sie sich entfalten konnten. Gezwungen, einen ruinösen Anpassungsprozeß zu vollziehen, ist das Land von Stagnation, Einsamkeit und früher Vergreisung bedroht.

Juan Carlos Onetti: „So traurig wie sie. Erzählungen“, 300 Seiten, aus dem Spanischen von Wilhelm Muster, Suhrkamp, 19,80 DM