Jahrtausendkonflikt in der Warteschleife

■ Johan Galtung, Norweger, Analytiker der Weltpolitk und Friedensforscher zum Golfkonflikt, den „tektonischen“ Spannungen zwischen Christentum und Islam und der neuen Teilung der Welt

taz: Die Konfliktlinie zwischen Ost und West markiert nicht mehr die globalen Machtblöcke. Statt der bipolaren haben die Analytiker der Weltaußenpolitik für die kommenden Jahrzehnte eine trilaterale Konstellation vorhergesagt, mit den USA, Japan und Europa als neuen Weltzentren. Haben sie die Rechnung ohne den Wirt am Ölhahn gemacht und das Entstehen einer islamischen Supermacht übersehen?

Johan Galtung: Diese Liste scheint mir überhaupt falsch. Ich arbeite mit einer These, die von sieben Supermächten ausgeht. Das wären die USA, dann immer noch die Sowjetunion

-schließlich ist dieses Imperium nicht einfach von der Bildfläche verschwunden. Und weiter: die Europäische Union ich sagen bewußt EU, nicht EG - Japan, China und Indien als drei eigenständige Zentren, und Nummer sieben ist die kommende islamische Supermacht. Die wird sich aus den 46 Mitgliedsländern der Islamischen Konferenz über kurz oder lang formieren. Diese sieben Zentren zeichnen sich also jetzt ab. Zweite Bemerkung: Ich persönlich bin fest davon überzeugt, daß bei der Malta-Konferenz im September ein Geheimabkommen vereinbart wurde - dafür gibt es keine Beweise, aber jede Menge deutlicher Indikatoren. Der Inhalt in einem Satz: Jalta steht für die Teilung Europas, Malta bedeutet die Teilung der Welt!

Auf welche Teilungslogik sollen sich denn Bush und Gorbatschow im Sturm vor Malta geeinigt haben?

Worum es gegangen sein muß, ist die Abgrenzung von Interessensphären. Das bedeutet die Verständigung darauf, daß die USA die Hegemonialmacht in der westlichen Hemisphäre und im Nahen und Mittleren Osten ist, der EU die gleiche Rolle für Afrika und Japan in Südostasien zugebilligt wird. Indien und China sollen ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln, und genau das gleiche gilt für die Sowjetunion. Deswegen wird Bush sich nicht in die inneren Verhältnisse des sowjetischen Imperiums, Chinas und Indiens einmischen. Dafür gibt es selbstverständlich eine Gegenleistung - wir erleben derzeit am Golf, wie sie funktioniert: Die Sowjetunion hält sich außerordentlich zurück. Ich glaube, in Malta ist etwas entstanden, das viel gefährlicher ist als das System von Jalta.

Zur Zeit sind alle Kommentare voll von der Angst vor dem Chaos, sogar die alte Kalte-Kriegsschlachtordnung wird nachträglich als Stabilitätsbedingung gefeiert. Welche neue Weltordnung können Sie sich vorstellen?

Es geht da nicht um meine persönlichen Wunschvorstellungen, sondern um Analyse. Diejenigen, die immer mit der Erwartung bipolar wird multipolar operieren, kennen ihre politische Theorie nicht. Es gibt nicht nur diese beiden, sondern vier mögliche Konstellationen: unipolar, das ist trotz des verbalen Widersinns vorstellbar. Es bedeutet nämlich eine hegemoniale Position in einer Interessenssphäre - so wie ich das eben für drei ganz klare unipolare Machtkonstellationen in der Welt, nämlich den US -amerikanischen, den japanischen und den europäischen Enflußbereich, aufgezeigt habe. Zwischen diesen unipolaren Blöcken gibt es zwar multilaterale Beziehungen, aber das ist nicht zu verwechseln mit multipolaren Konstellationen, denn die Abgrenzung der Interessengebiete wird gegenseitig völlig respektiert. Zuletzt gibt es immerhin auch noch eine vierte Möglichkeit - und die befürworte ich als Friedensforscher natürlich - das ist ein nullpolares System.

Wer hätte denn dort die Funktion, Grundregeln von Menschen und Völkerrechten zu garantieren?

Die Vereinten Nationen...

...die im Moment zwar Beschlüsse fassen, die Durchführung aber den USA überlassen?

Das muß nicht notwendig so sein. In Zypern habt die UNO eine große und positive Rolle gespielt. Es ist ganz klar, daß die Vereinten Nationen noch nicht mit ausreichender Autorität und materieller Macht ausgestattet sind, um diese zentrale Rolle zu spielen. Aber es ist auch ganz klar, daß im aktuellen Konflikt ein anderes Defizit auch nicht gerade undramatisch ist: Wer handelt, hat keine Legitimation dazu Saddam Hussein hatte überhaupt keine, Kuwait zu überfallen, ebenso wie Bush keine Legitimation für seine Maßnahmen hat. Aber: Der Irak liegt in Bushs Einflußsphäre, deshalb mischt er sich ein und deshalb mischen sich die anderen bei seiner Einmischung nicht ein. Es wäre viel besser gewesen, UN -Truppen an den Golf zu schicken. Da ist eine Riesenchance verpaßt worden.

Das Reich des Bösen ist in der westlich orientierten Weltöffentlichkeit von Moskau nach Bagdad verlagert worden. Da wird nicht nur ein Regionalkonflikt kommentiert, sondern ein universelles Anliegen. Hussein wird als „neuer Hitler“ apostrophiert, der politische und zivilisatorische Errungenschaften, das ganze Wertesystem liberaler Demokratien gefährdet. Ist das für Sie alles nur Propaganda?

Selbst an Propaganda ist immer auch ein Stück Wahrheit dran. Selbstverständlich ist Hussein ein Diktator. Die grauenhaften Menschenrechtsverletzungen innerhalb Iraks sind uns schon vor langem von amnesty international bekannt gemacht worden. Selbstverständlich ist er auch ein Politiker mit einem ausgerägten Sendungsbewußtsein: Er versteht sich ja selbst als eine Mischung von Nebukad Nezar, der den Tempel in Jerusalem zerstörte und Saladin, der gegen die Kreuzritter kämpfte. Diese verdummende westliche Presse reduziert das alles auf die Einheitsformel „Heiliger Krieg“

-und versteht nicht mal, daß diese Formel kein Offensiv-, sondern ein Defensivkonzept ist. Dabei müssen wir uns klar machen, daß es für die islamische Geschichtstheorie, was die globale Makrogeschichte anbetrifft, drei Herausforderung gibt: die Kreuzzüge, den Zionismus und den Kommunismus, und zwar wegen der atheistischen Grundposition.

Zurück zur aktuellen Situation am Golf: Saddam Hussein hält Geiseln und spielt auf Zeit, in den USA, von einigen arabischen Prinzen und aus Israel gibt es den strategischen Rat, schnell eine militärische Entscheidung zu suchen, der US-Verteidigungsminister spricht schon jetzt von einer langen Präsenz. Welche Szenarien für diesen Spannungsfall vielleicht schon eine Voprkriegssituation - sehen Sie?

Ich glaube, Bush wird und muß an einem Erstschlag interessiert sein. Er kann das gar nicht gebrauchen, die lange Stationierung einer großen Streitmacht in Saudi -Arabien. Die anderen Nationen übernehmen andere Aufgaben in der internationalen militärischen Arbeitsteilung, die USA haben als Hauptziel den Erstschlag. Das könnte allerdings jetzt etwas schwierig werden. Hussein hat diese Aktion sehr genau geplant, er hat den Angriff auf Kuwait ganz klar vor dem Hintergrund der großen Anzahl von Ausländern dort und im Irak durchgeführt, das ist eine seiner Pokerkarten. Ein Szenario, das auch möglich ist, wenn auch unwahrscheinlicher, ist eine Verhandlungslösung über die UN...

...und was wäre da der Verhandlungsgegenstand?

Es müßte über viele Dinge gesprochen werden, eben gerade nicht nur über Öl oder die Kolonial-determinierten Grenzen. Es ist unmöglich, zu einer Verhandlungslösung zu kommen, ohne über die religiösen Fragen zu sprechen. Ich gebe ein Beispiel - auch wenn ich weiß, daß das heute nicht unmittelbar realisierbar ist: Wenn der Papst als ein Oberhaupt des Christentums sich zu einer öffentlichen Kritik der Kreuzzüge bekennt, wenn er sich für das Massaker 1248 in Bagdad entschuldigt, wo die verbündeten christlichen Kreuzritter und Mongolen eine Million Einwohner abgeschlachtet haben, dann wird in der ganzen Debatte eine neue Qualität erreicht. Es gibt da tatsächlich einiges an historischem Unrecht auszuräumen, und die islamische Gemeinschaft ist da mindestens so moralisch wie wir.

Wie könnte aber die aktuell wahrscheinlichere Entwicklung aussehen?

Zuerst wird natürlich alles auf die Blockade ausgerichtet sein, aber ich glaube eben mit einer hohen Bereitschaft zu einem Erstschlag von Seiten der USA. Als positive Ziel ist die Restauration der Herrschaft eines Clans in Kuwait ein ziemlich schwaches. Kuwait und die arabischen Emirate sind von den Briten abgemessen und anerkannt worden, um die Ölversorgung zu sichern, dann gab es erstaunliche Aufbauleistungen, aber von dort kann dieser Raum nicht entwickelt, letztlich auch nicht gesichert werden. Die Herausforderung, die unter machtpolitischen Gesichtspunkten zurückgedrängt werden muß, heißt Saddam Hussein. Er ist offensichtlich ein sehr geschickter Bündnispolitiker - wer hätte sich diese kooperative Haltung des Iran so kurz nach dem schrecklichen Krieg vorstellen können, vielleicht kommt es sogar noch zu einem direkten Bündnis. Und er setzt Giftgas ein, das ist lange bekannt. Ich kann mir deswegen sogar vorstellen, daß von der anderen Seite Atomwaffen eingesetzt werden.

Wieso das? Dieser Vorschlag ist in Korea und Vietnam - in direkten Kriegssituationen also - vom US-Militär gekommen und beide Male auch in den USA politisch abgelehnt worden.

Wir haben aber heute nicht die gleiche Konstellation. Erstens: Für die Sowjetunion und alle anderen Experimente, den Sozialismus aufzubauen, gab es im Westen bis in das Bürgertum hinein immer große Sympathien. Die Sowjetunion war in diesem Sinne immer auch ein Teil von uns, von der abendländisch-europäischen Welt. Zweitens: Das sozialistische Experiment als Systemgegensatz gibt es seit 1917. Was ist das für ein historisch kurzer Zeitraum im Vergleich zu dem Jahrtausendkonflikt zwischen Abendland und Morgenland, Christemtum und Islam. Was wir im Golf erleben, ist nur ein neuer Aufbruch dieser Konfliktlinie. Byzanz wird Konstantinopel, Maueren und Reconquista in Spanien, die Türken vor Wien - das ist uns Geschichte. Aber in der Moderne wirken diese tektonischen Geschichtsformationen doch weiter, baut sich immer wieder Spannung auf. Nasser, Chomeini, Ghadaffi, jetzt ist Hussein die Bruchstelle. Ist die Stelle, wo die Lava austritt, etwa verantwortlich für die dahinter wirkenden Kräfte? Wenn der Westen Saddam Hussein losgeworden sein sollte, die Geheimdienstaktionen in Richtung Attentat werden wir sicher erleben, dann werden andere islamische Führer Schlange stehen, seine Funktion zu übernehmen. Die westliche Presse in ihrer Dummheit beschreibt uns immer die teilweise verkorkste, teilweise einfach nicht verstandene Einzelpersönlichkeit, der gesamte Kontext bleibt ausgeblendet.

Was ist denn in dieser historischen Konfrontation die Rolle der USA?

Nun, es geht um einen lang dauernden und grundsätzlichen Widerspruch, und die Politik der USA ist von ihren Grundlinien her immer darauf ausgerichtet, Konflikte schnell zu erledigen...

...auch eine Reaktion auf eine komplizierte, demokratische Öffentlichkeit...

Genau. Aber diese Konstellation läßt sich nicht schnell lösen. Und dann wird sich zeigen, ob Japan etwa diesen Westen unterstützt. Ich glaube, die Japaner werden sich ganz leise zurückziehen. Überhaupt der asiatische und pazifische Raum, da gibt es doch auch so wichtige Staaten wie Pakistan und Indonesien mit einer großen Zahl islamischer Bevölkerung noch dazu. Christentum - Islam, das sind eben wirklich Hauptströmungen. Globale Komponenten der Zukunft sind zwar bekannt, nicht aber die tatsächliche Entwicklungsrichtung. Wir befinden uns wirklich in einer Warteschleife der Menschheit. Aber einen ganz klaren Effekt in den USA hat Saddam Hussein jetzt schon erreicht: Die Hoffnung, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation das Pentagon ein bißchen in Baumwolle packen zu können, ist dahin. Dieser Kelch ist an der Rüstungsindustrie vorbeigegangen.

Welche Rolle könnten die Europäer in der „Warteschleife“ spielen?

Vor allem die der Versöhnung mit dem Islam. Es geht wirklich darum, das Verständnis für die arabisch-islamische Welt zu fördern - was eben nicht bedeutet, eigene Werte, Überzeugungen, Standards zu vergessen. Ich war sehr enttäuscht darüber, daß Spanien nicht solch eine Vermittlerrolle spielen will, sondern auch im aktuellen Konflikt lieber wieder als USA-Militärstützpunkt funktionierte.

In Westeuropa hatten sich die Bürgerinnen und Bürger eine direkte Mitsprache auf dem außenpolitischen Feld angewöhnt: Es gab die antiimperialistische Unterstützung der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, es gab die Friedensbewegung gegen die Blockkonfrontation. Im Golfkonflikt gibt es keine Bürgerwegung gegen das Außenpolitikmonopol der Regierungen. Warum nicht?

Das liegt an der fehlenden Solidarität mit den Moslems. Ob man nun Christ ist oder nicht, alles, was wir in unserer Schule über den Islam gelernt haben, das meiste, was wir heute in unserer Presse über den Fundamentalismus, die Rolle der Frau und so weiter lesen, weckt keine Sympathie - und kann auch keine wecken. Das sind primitive ideologische Plattheiten, keine Informationen. Welcher Abendländer kennt denn schon den Begriff „zakat“, also die im Koran festgelegte Pflichtverteilung von Einkommen? Dazu kommen jetzt die neuen sozialen Reibereien an islamischen Immigranten und ihren Lebensmustern. Was immer der Islam immanent an Utopien bereit hält, für uns liegt darin bisher offensichtlich kein Versprechen auf eine bessere Welt, also gibt es nur Scharfmacher und Gleichgültige, Nathan der Weise fehlt.

Interview: Georgia Tornow