: Die Volkskammer beschließt das Ende der DDR
■ In einer elfstündigen Nachtsitzung quälte sich die Volkskammer zur Beschlußfassung. Gestern morgen um 2.50 Uhr verkündete die Parlamentspräsidentin Sabine Bergmann-Pohl: Die DDR tritt am 3.Oktober der Bundesrepublik bei.
Finale
Das Experiment mußte scheitern. Ausgerechnet Gregor Gysi unternahm gestern morgen um drei Uhr den Versuch, der Volkskammer die Dimension der eben gefällten Entscheidung auszuleuchten und das quälend substanzlose Gerede vom „historischen Datum“ etwas anzureichern. Denn nach dem Verlauf der elfstündigen Sitzung waren Zweifel angebracht, ob die Abgeordneten wirklich das Ende der DDR auf den 3. Oktober festgelegt hatten oder ob sie doch nur den inständigen Bitten all jener, die sich um die „Würde des Parlamentes“ sorgten, nachgekommen waren, endlich das Gezerre um den Beitritt zu beenden.
Die Erleichterung dominierte. Nach endlosen Abstimmungsgefechten hatte doch noch alles geklappt, und das Parlament hatte einen Beschluß gefaß. Euphorie mischte sich bei über die bestandene Probe „vor der Weltöffentlichkeit“. Das hätte auch der sonst für sicheres Gespür bekannte Gysi registrieren müssen. Schon sein auf Reflexion gestimmter Einleitungssatz, schließlich habe das Parlament gerade „nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober beschlossen“, ging im hämischen Jubel unter.
Nachdenklichkeit war nicht angesagt. Immerhin ging auch die gestelzte Würde, die Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl dem Ereignis für angemessen hielt, gründlich daneben: Der Überschuß an Historie gerann ihr zum quälenden Stakkato, in dem sie den eben beschlossenen Antrag verlas: „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990.“ Und vielleicht war ihr Dank an alle Mitarbeiter des Hohen Hauses für ihr Ausharren dann doch noch die angemessene Reaktion auf das nächtliche Treiben im Palast der Republik.
Von Anfang an hatte die gerade zerbrochene Regierungskoalition die Parole „Entscheidung heute!“ ausgegeben. Vor den inständigen, mit Volkes Wille untermauerten Bitten aus den Fraktionen mußten im Laufe des Abends auch die eingefleischtesten Parteitaktiker kapitulieren. „Bitte, wir sollten zum Schluß kommen, wir sollten die quälenden Diskussionen unserer Bevölkerung nicht länger zumuten“, stimmte FDP-Vize Reiner Ortleb das Plenum auf Terminkompromiß. Doch zuvor wollten alle - gemäß dem Motto „Gesicht wahren“ - noch einmal ihre je eigene Terminierung begründen und zur Abstimmung stellen.
Die DSU hatte erwartungsgemäß wieder die patriotisch sauberste Lösung im Angebot: „Beitritt heute“. „Diese Nachtsitzung“, enthüllte DSU-Sprecher Schwarz dem Plenum, „erweckt eine ungeheure Erwartung im Land.“ Nur mit dem „bedingungslosen Beitritt“, so die DSU-Kalkulation, könne der entstandene Verlust des Parlamentes an Ansehen jetzt noch wiedergutgemacht werden. Immerhin 56 Abgeordnete konnten sich bei der Abstimmung für diese Argumentation erwärmen.
Mit dem als Abänderungsantrag eingebrachten Wunschdatum 15.September wollte anschließend SPD-Chef Wolfgang Thierse endlich verhindern, „daß immer neue Termine kommen“. Der Antrag wurde zur Abstimmung gestellt - und erwartungsgemäß abgelehnt -, obwohl man sich zuvor, in einer „Auszeit“, schon auf den 3. Oktober als Kompromiß geeinigt hatte. Es wurden Spekulationen laut, de Maizieres Auftritt habe den Kompromiß in letzter Minute wieder aufs Spiel gesetzt.
Der Ministerpräsident, auf dessen Antrag hin die Sondersitzung angesetzt worden war, versuchte noch einmal, in der Pose des verantwortungsbewußten Landesvaters sein neugewonnenes Profil als knallharter Parteitaktiker zu korrigieren. Doch von seinem in Euphemismen schön verpackten Appell, die Sache über die Taktik zu stellen, fühlten sich vor allem die unter seiner Führung geprüften Genossen provoziert. Auch „die Aufgaben, die nur von uns erledigt werden können“, zerrte de Maiziere wieder hervor, um den CDU -Antrag - Beschluß der Volkskammer am 9.10. über den Beitritt am 14.10. - mit Sachlichem ein wenig anzureichern. Und dann noch der mahnende Verweis auf die parlamentarische Kultur; die habe gelitten.
Auch in dieser Hinsicht mußte Gregor Gysi an diesem Abend retten, was zu retten war. Mit der schlichten Feststellung, der Beitritt löse keines der Probleme, die bislang nicht gelöst seien, deutete er zumindest an, daß hinter der Termindebatte noch andere lohnende Themen für die Volkskammerarbeit bereitlägen. „Schuldenerlaß, Bodenreform, Eigentumsrechte - „wer“, fragte Gysi ins Plenum, „hindert uns eigentlich, das jetzt zu beschließen?“
Doch es ging in dieser Nachtsitzung eben nicht um das Ende der DDR und dessen Modalitäten, sondern um das Ende der Termindebatte. Woher die - bei all der flehentlichen Abgeordnetenreue - gekommen war, blieb bis zum Schluß unerfindlich. Jedenfalls mußte sie abgeschlossen werden, wofür am Ende jeder Termin geeignet schien, den noch keine Fraktion auf ihren Fahnen hatte, der früh genug lag, um „das Volk“ nicht an der Einheitsentschlossenheit seiner Vertreter zweifeln zu lassen und spät genug, um die Fiktion des „geordneten Beitritts“ weiter aufrechtzuerhalten. Genscher persönlich - so wurde in der Lobby gemunkelt - habe noch einmal telefonisch interveniert, der Beitritt dürfe keinesfalls vor dem KSZE-Ministertreffen am 2. Oktober in New York angesetzt werden. Daß der Kompromiß 3. Oktober das Treffen zur Formsache degradiert, schien auch dem Außenminister unerheblich. In den gemeinsamen Beitrittsantrag von CDU, DSU, SPD und FDP selbst wurde dann die Hoffnung hineinformuliert, daß die Zwei-plus-vier -Verhandlungen bis zum 3. Oktober „einen Stand erreicht haben, der die außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen Einheit regelt“. Auch hinsichtlich der Beratungen zum Einigungsvertrag fiel den Antragstellern nur ein, man hoffe, daß die „Beratungen zu diesem Termin abgeschlossen sind“. Als „unverbindliche Erklärungen“ qualifizierte Jens Reich vom Bündnis 90 diese Anhängsel und pointierte noch einmal die Unvereinbarkeit der Standpunkte. Währenddessen war die in den letzten Tagen gerade aufmüpfig gewordene SPD wieder auf nationaler Konsenslinie: „Wir sollten nicht die schwarze Illusion schüren“, so Parteichef Thierse, „wir würden mit dem Beitritt unter die Räuber fallen.“ Von dieser „Illusion“ war einer an diesem Morgen weit entfernt: Verkehrsminister Gibtner, gerade 50 geworden, reklamierte freudig den gerade errungenen Beitrittsbeschluß als ganz persönliches Geburtstagsgeschenk. Wir gratulieren.
Matthias Geis
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