„Kurz vor 7 schnell Honecker putzen“

■ Arbeitsalltag bei der „Aktuellen Kamera“ / Nur handverlesene Mitglieder erhielten Zutritt zu dem exklusiven Verein / Das Flaggschiff des DDR-Fernsehens kämpft jetzt ums Überleben

Von Marina Schmidt

Berlin-Adlershof: Nur wenige Minuten vom S-Bahnhof entfernt erstreckt sich das Gelände des Deutschen Fernsehfunks. Den Zutritt zum einstigen Staatssender, der größte Anstrengungen unternimmt, sich in eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt zu verwandeln, kontrollieren noch immer uniformierte Volkspolizisten. Zwischen Blumenrabatten und tristen Fünfziger-Jahre-Bauten residiert im ältesten Gebäudetrakt das Herzstück des Senders, die Aktuelle Kamera (AK).

Jahrzehntelang wurde die Nachrichtenredaktion wie ein Hochsicherheitstrakt bewacht und vor unliebsamen Eindringlingen beschützt. Noch immer öffnet sich die Pforte zum „Allerheiligsten“ erst nach Eingabe einer Codenummer. Was sich dahinter verbirgt, ist auf den ersten Blick erschreckend. Auf düsteren Fluren wirft sich das ausgetretene Linoleum den vergilbten Blümchentapeten entgegen. Über knarrende, verwinkelte Treppen führt der Weg zum Zentrum der Informationsmaschine, dem Cockpit. Hier müssen die Ideen für die Fernsehserie Raumpatrouille Orion entstanden sein. Vor einer Bildschirmwand, halbkreisförmig angeordnet, sitzen aber nicht Vivi Bach und Dietmar Schönherr im flotten Raumanzug, sondern die Nachrichtenchefs und leitenden Redakteure. Ausgerüstet mit Mikrofon und Köpfhörer, die laufenden Monitore stets im Blick, steuern die Piloten hier täglich sechs Nachrichtensendungen. Hinter dem Cockpit, im Halbdunkeln, der Arbeitsraum der Redakteure.

Bestechender Raumschiff-Orion-Charme

Seit Monaten bemüht sich die gesamte Crew, den erfolgten Kurswechsel in den Griff zu bekommen. Wieviel Zeit ihr dafür noch bleibt, ist unklar. Ebenso wie über dem Rundfunk in der Nalepastraße kreist auch über Adlershof der Pleitegeier. Mit der ab Oktober genehmigten Rundfunkgebührenerhöhung (19 Mark im Monat, von denen 15 Mark dem DFF zufließen) ist der Betrieb zumindest bis zum Jahresende gesichert. Aber dann werden auch hier Massenentlassungen ins Haus stehen. Alle rechnen damit, daß das einstige Flaggschiff des DDR -Fernsehens, die AK, als erstes versenkt wird. Denn sie war neben der Presseagentur 'adn‘ und dem 'Neuen Deutschland‘ das Sprachrohr der SED.

Bei vielen MitarbeiterInnen herrscht Endzeitstimmung. Diejenigen, die jahrelang minutiös die täglichen Anweisungen des ZKs ausführten, stellen sich auf ein faktisches Berufsverbot ein. Die Jüngeren sind dabei, das sinkende Schiff zu verlassen, und versuchen bereits, bei Westsendern Unterschlupf zu finden. Einen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit bieten die fünf Landesstudios, die seit dem 13.August täglich eine halbe Stunde Regionalprogramm veranstalten. Ab dem 17.September soll deren Programmangebot um eine halbe Stunde und zum Ende des Jahres auf zwei Stunden täglich erweitert werden. Trotz der desolaten Situation hat sich die AK dem im Westen üblichen Standard der Nachrichtensendungen erstaunlich schnell angenähert und ein dankbares Publikum gefunden. Eine „EMNID“ -Umfrage von Ende Juli weist sie als populärste Sendung des DFF aus. Demnach bewegten sich die täglichen Einschaltquoten zwischen 30 und 40 Prozent.

Hektischer Arbeitsalltag im Cockpit

7.30 Uhr: Dienstbeginn für die Frühschicht. Die Vorbereitungen für die AK am Morgen laufen an. Im Cockpit werden die Agenturmeldungen gesichtet. Auf der Monitorwand laufen die Nachrichten von RIAS-TV zur weiteren Orientierung. Wie überall wird auch hier fleißig von der Konkurrenz abgekupfert. Was an eigenem Material nicht vorhanden ist, wird bei den anderen abgezapft - eine auch im Westen gängige Methode. Die Piloten wühlen sich durch einen Haufen Kohlepapier. Der einzige Fotokopierer am Ort kommt nur selten zum Einsatz. Von jeder Meldung existieren nur eine handvoll Durchschläge. Eine Nachrichtenverteilanlage gibt es nicht. So entscheiden die jeweiligen Nachrichtenchefs und Ressortleiter noch immer, was die Redakteure zur Bearbeitung in die Hand bekommen.

Hauptinformationsquelle vor der Wende war die Abteilung Agitation und Propaganda im ZK. „Täglich riefen die Genossen aus Stadtmitte an und diktierten uns Wort für Wort, was wir zu melden haben“, beschreibt ein Redakteur die Situation im Bereich Innenpolitik. Auch 'dpa‘ und 'afp‘ wurden in dieser Zeit aus dem Verkehr gezogen. Unter strengem Verschluß gab es in den Chefetagen auch Zeitungen aus dem kapitalistischen Ausland. Für die Redakteure blieben sie tabu. Als erste Westagentur konnte 'dpa‘ nun wieder in Adlershof Einzug halten. Auch 'afp‘ läuft wieder über die Drucker. Das beschränkte Budget erlaubt nur ein weiteres Agenturabonnement, so daß zur Zeit 'ap‘ und 'Reuters‘ auf Probe laufen. Auf die Redaktionstische gelangt zum größten Teil 'adn‘, ab und zu auch einmal eine 'dpa'-Meldung. 'ap‘ und 'Reuters‘ scheinen den Chefetagen vorbehalten zu sein.

In diesem Jahr hat sich das gähnende Sommerloch nicht aufgetan. Statt Sauregurkenzeit ist Krisenmanagement angesagt. Die Themen für die Morgensendung liegen auf der Hand: an der Spitze im Ausland die Golfkrise. Die weitere Reihenfolge bestimmt das vorhandene Bildmaterial. Blutige Auseinandersetzungen in Südafrika, Bürgerkrieg in Liberia, Benazir Bhutto in Pakistan abgesetzt, Anschlag auf Präsidentenpalast in Peru. Krisenstimmung auch im Inland. Betriebsstillegungen, Bauernproteste, Streiks in den Kalibergwerken, Streit um Wahl- und Beitrittstermin, kurz Wirtschafts- und Regierungskrise. Zur Auflockerung am Morgen noch ein paar bunte Beiträge: Badevergnügen an den Berliner Seen, Mittelalterfest im Lustgarten, Kunstausstellung in Potsdam.

Der Sendeplan steht. Die Ressortleiter In- und Ausland verteilen die Ticker an die Redakteure. Die Zeit zum Nachrichtenschreiben ist knapp. Für die Formulierung der Meldungen stehen nur Kugelschreiber und Altpapier zur Verfügung. Das Ergebnis wird der Sekretärin in die Maschine diktiert. Zuvor noch schnell ins EGZ, das elektronische Grafikzentrum. Für die Hintergrundtafeln müssen Fotos, Grafiken oder Landkarten bestellt werden. Außerdem ein Schlagwort für jede Meldung. Um halb zehn kommt Hektik auf. Während sich die Nachrichtensprecherin bereits einliest, kämpft der Moderator noch mit seinen Texten. Es muß noch eine Maz geschnitten werden, zudem fehlen zwei Nachrichten. Ein Stockwerk höher koordiniert die Planungsgruppe zur gleichen Zeit den Reportereinsatz. Themen werden festgelegt, Teams rausgeschickt, Leitungen müssen bestellt werden.

9.45 Uhr: AK am Morgen läuft. Alles ist glatt gegangen. Ein Aufatmen geht durch die Crew, dann eine Zigarettenpause im Flur. 10.30 Uhr: Morgenkonferenz. Planungsgruppe und Cockpit tauschen Themen und Einsätze aus. Der Plan für die weiteren Nachrichtensendungen des Tages nimmt Gestalt an.

Gelöste Stimmung

und Honecker-Witze

Trotz der sichtlichen Anstrengungen, nach jahrzehntelangem Verlautbarungsjournalismus die Sendung in eigener Regie und Verantwortung zu gestalten, ist die Stimmung erstaunlich locker und familiär. Alle sind per Du, der im Westen übliche Konkurrenzdruck scheint hier noch ein Fremdwort zu sein. Anekdoten über den Genossen Hermann vom ZK und Honecker -Witze machen die Runde. Das hätte früher keiner gewagt. Zwar war die Belegschaft der AK schon immer eine verschworene Gemeinschaft, nur handverlesene Mitglieder erhielten Zutritt zu dem exklusiven Verein, doch die Angst vor Stasi-Spitzeln dämpfte stärkere Gemütsausbrüche. Außerdem war immer ein Volkspolizist in den Redaktionsräumen anwesend.

Die Mitarbeiter der zweiten Schicht treffen ein. Der leitende Redakteur Ausland hat sich krank gemeldet. Ein Platz im Cockpit steht zur Disposition. Niemand meldet sich freiwillig. Die Angst, Entscheidungen zu treffen, sitzt tief, denn das war früher alles andere als dienlich. Endlich erklärt sich eine Redakteurin dazu bereit. Um kurz vor 12 Uhr ertönt die Erkennungsmelodie der „Eurovision“. Auf der Monitorwand erscheint über dem Bildschirm von SAT1 (dort läuft gerade Fred Feuerstein) eine Tafel. Sie kündigt Titel und Sendestation der gleich folgenden Nachrichtenfilme an. Im Gegensatz zu den Textquellen wird die AK mit Bildmaterial gut versorgt. Neben dem eigenen Reporterpool ist sie sowohl an das Ostblocksystem „Intervision“ als auch an die westeuropäische „Eurovision“ angeschlossen. Hinzu kommt täglich ein viertelstündiges Filmpaket der kommerziellen Agentur WTN.

Honeckers Glatze

durfte nie ins Bild

Punkt 12 Uhr wird via Satellit das erste Filmmaterial eingespielt. Der Beitrag wird mit „Ships“ angekündigt. Nach einem kurzen Ratespiel wird beschlossen, daß es sich bei den gezeigten Schiffen um die Hafenblockade in Akaba handeln muß. Von den etwa 15 Kurzfilmen, die bis 12.40 Uhr hereinkommen, müssen die Bilder aus dem Golf, Frau Bhutto und Lima um 12.50 Uhr auf Sendung gehen. Jetzt sind schnelle und in ihrem Handwerk sichere Redakteure gefragt. „Nur keine Aufregung“, schmunzelt ein Redakteur, „das sind wir gewohnt. Früher klingelte regelmäßig kurz vor Sendebeginn das Telefon. Dann mußten wir innerhalb einer Viertelstunde die Sendung komplett umbauen und häufig noch schnell 'Honecker putzen‘. Der hatte die Angewohnheit, sich ständig mit der Zunge über die Lippen zu fahren. Das und alle 'Ähs‘ und 'Hmms‘ mußten rausgeschnitten werden. Außerdem durfte keine Kameraeinstellung, die seine lichten Stellen auf dem Hinterkopf zeigt, auf Sendung gehen.“

12.50 Uhr: die Mittagsnachrichten. Wie fast immer, hat noch alles geklappt. Die Bestätigung kommt um 13 Uhr. Kein großer Unterschied zu den Nachrichten der ARD, die AK war sogar schneller.

Im Laufe des Nachmittags treffen die Nachrichtenpakete von WTN und Intervision sowie die eigenen Reporterberichte ein. Ein Teil davon, hauptsächlich die Beiträge der Auslandskorrespondenten, muß noch bearbeitet werden. Doch die sind mittlerweile eine Seltenheit. Früher gab es in den meisten sozialistischen Bruderländern eigene Büros. Der zur Zeit der Nelkenrevolution nach Lissabon beorderte Kollege wurde abberufen. Von dem Korrespondenten in Harare, Simbabwe, hat man schon lange nichts mehr gehört. In Peking ist noch ein Kameramann, auch Moskau und Prag sind noch besetzt. Aber die Kollegen dort wollen „ihren Wirsing nicht mehr raushängen“. Ständige Korrespondenten gibt es in Bonn, Paris, Washington und eigentlich auch im Nahen Osten. Doch der Mann in Kairo hat wenige Tage vor dem irakischen Einmarsch in Kuwait seinen Jahresurlaub beantragt. Und der muß bis Ende des Jahres abgefeiert sein, danach könnte es zu spät sein.

Kein Kommentar

aus Adlershof

19.30 Uhr: die Hauptausgabe von Aktuelle Kamera läuft. An der Spitze die Golfkrise, die auch ohne Korrespondenten anschaulich über die Bühne geht. Dann die eigene Wirtschafts - und Regierungskrise, deren journalistische Bewältigung der Crew schon schwerer fällt. Alle sind bemüht, die Geschehnisse sachlich, informativ und ausgewogen darzustellen. Doch die aktuelle Innenpolitik zu kommentieren, das wagt sich niemand. Das Genre Kommentar ist aus dem Adlershofer Programm vorläufig gestrichen.

19.50 Uhr: die AK verabschiedet sich mit dem Wetter von morgen. Die Belegschaft ist zufrieden mit der Tagesleistung. Während noch über die Qualität einzelner Beiträge diskutiert wird, klingelt wie in alten Zeiten das Telefon. Es ist Frau Bergmann-Pohl...