Ich war eine Null

■ „Sekt oder Selters...“, Donnerstag, 23.August, ZDF, 21 Uhr

Der Einstieg war klassisch. Mit zwei Mark Einsatz gewann er dreißig Mark und blieb dem Geldspielautomaten treu. In anderthalb Jahren hat er seitdem etwa dreißigtausend Mark durchgebracht, Arbeit und Freundin verloren. Jürgen, 28, Sozialpädagoge, ein unauffälliges Gesicht, harmlos und nett. Einer von den geschätzten dreihunderttausend Spielsüchtigen in diesem Land. Sie sitzen in der Kneipe um die Ecke, mit den blinkenden Automaten verschmolzen, sie hocken in den Spielhallen, ein jeglicher vor seinem Gerät, die Zigarette in der einen, die Münzen in der anderen Hand. Völlig weggetreten, der Musik des Gerätes lauschend, auf die leuchtende Risikoleiter starrend, sechs Stunden, acht Stunden lang. Gemeinhin werden sie für krank, neurotisch und schwach erklärt.

In diesem Film von Hans-Christian Schmid konnte man ihnen zuhören. Jutta, 35, ist seit acht Jahren dabei. Auch sie hat beim ersten Mal gewonnen und sich gedacht: „Ist ja toll, machste jetzt öfter.“ Und verspielt seither an manchen Tagen dreihundert Mark, sitzt in jeder freien Minute „an meinem Apparat“, stundenlang. „Und wenn du 'raus kommst, biste am Boden zerstört, fix und fertig, hast Angst vor der Dunkelheit, kannst nicht schlafen und träumst nur vom Gerät.“ Das Problem, früher oder später, ist die Geldbeschaffung. Jürgen, 33, half sich eine Zeitlang, indem er Freunde anpumpte: „Haste mal 5.000 Mark?“, lebte ansonsten von „Kartoffeln, Margarine und Salz“. Und dann überfiel er vierzehn Tankstellen und bekam sechseinhalb Jahre Knast. Die typischen Suchterscheinungen: fertig zu sein, „aber nicht so fertig, daß ich aufhören wollte„; Entzugserscheinungen: Alpträume, Schweißausbrüche, Herzklopfen. Aber der Traum vom Gewinnen blieb wach, und irgendwann „knallt's im Kopf“, und er geht los, besorgt sich Geld und spielt. Doch der süße Flash, der am Anfang da war „Ich drück da mal drauf, alles leuchtet auf und - klatsch ist der Hunderter da“ - ist längst vergessen. Im Stakkato des Süchtigen erzählt einer von der Anstrengung des Spielens: „Du bist echt im Akkord, voll im Streß, die Leiter geht nicht hoch, los, komm‘, mach‘ doch, dann geht sie doch hoch, nee, das kannze nich kontrollieren, als Spieler kannze das nich.“

Und das Schlimmste ist der völlige Verlust des Selbstwertgefühls, „ich war eine reine Null“, und daraus resultierend die Sehnsucht nach dem Selbstmord. „Guck‘, wie es lang geht, und mach einen guten Abgang.“ Und zwischendurch darf sich auch der Ober-Dealer der Spielbranche, Gauselmann, Erfinder der herrschenden „Merkur“ -Geräte und der „Risikoleiter“, zum Problem äußern: „Wenn es krankhaft wird, muß natürlich Hilfe her“, sagt er smart, „aber sehen Sie, wir sind ja nicht Auslöser der Sucht, sondern Tröster.“

Eine weitere Sucht in einer Gesellschaft, die auf vielerlei Arten süchtig ist. Erklärungen bleiben vage: „Wer tagsüber Sklave des Fließbandes ist, möchte abends Herr des Automaten sein“, aber wie diesem Trugschluß abzuhelfen ist, kann der Film nicht sagen. Die Automatenbranche immerhin liefert seit neuestem eine Telefonnummer der nächsten Selbsthilfegruppe für SpielerInnen auf jedem Automaten gleich mit.

Olga O'Groschen