Kurvaelet - ein Hurenleben

■ Eine Tagetour von Budapest nach Wien

Eine Tagestour

von Budapest

nach Wien

VON RALF SCHULER

Kurvaelet - „ein Hurenleben“ ist nicht erst in diesen Tagen eine oft strapazierte Wendung im ungarischen Sprachgebrauch. Dabei stammt dieser Ausspruch nicht etwa von den Budapester Prostituierten, die derzeit um eine eigene Gewerkschaft und um eigene Häuser ringen, und auch nicht von den machtlosen Umweltschützern, die noch immer zusehen müssen, wie der Staudamm Nagymaros Tag für Tag weitergebaut wird. Nein, es sind die einfachen Käufer, Kunden und Konsumenten, die solche Stoßseufzer gen Himmel fahren lassen. Die Hausfrauen beispielsweise sind nicht so „gut“ dran wie die Damen des „leichteren“ Gewerbes, die nach alter Tradition am Rakoci-Platz ein wenig abseits von der noblen Innenstadt einherstelzen und marktwirtschaftlich ihre Preise stets auf dem neuesten Stand kalkulieren können. Die Hausfrauen wundern sich bei jedem Besuch in den Kaufhäusern und Lebensmittelgeschäften, daß die so heiß ersehnte Demokratie derart teuer ist.

Alles müßte anders werden, erklärt eine 47jährige Lehrerin. Sie unterrichtet an drei verschiedenen Schulen, um eingermaßen zurechtzukommen. Und damit alles anders werde, haben die Leute das konservative „Magyar Demokrata Forum“, das Ungarische Demokratische Forum, mit dem jetzigen Ministerpräsidenten Jozsef Antall an der Spitze gewählt. Doch unversehens müsse man nun feststellen, daß die Reformer der Sozialistischen Partei viel konstruktivere und konsequentere Programme vorwiesen als die neuen Männer an der Macht. Doch solche Politiker wie Imre Pozsgay sitzen jetzt in der Oppositionsbank und können höchstens routinemäßig das Wort ergreifen.

Beim skandalösen Staudamm an der Grenze zur CSFR ist es genau dasselbe: Der Baustopp ist längst proklamiert, doch die Arbeiten gehen weiter. Auch ungarische Firmen baggern emsig im Flußbett, das mehr und mehr auf tschechoslowakischen Boden abgleitet. Nur werden sie jetzt von der anderen Seite bezahlt, nicht mehr von ihrem Lande. Daß der Grenzfluß unversehens zu einem Gewässer der CSFR wird, sorgt gleichfalls für Konfliktstoff; und der tschechoslowakische Präsident Havel, vormals engagierter Gegner des Projektes, sieht es nun, in Amt und Würden, plötzlich gar nicht mehr so eng mit dem Baustopp...

Die Demokratie

ist teuer

Kurva, die Hure, setzt sich täglich ähnlich der im Deutschen gebräuchlichen Bezeichnung für ein mit Sch... beginnendes Stoffwechselendprodukt mehr und mehr vor die Worte der ungarischen Umgangssprache. Denn der wirtschaftliche Aufschwung, den der sich wild-stürmisch gebende Jozsef Antall für die Mitte des kommenden Jahrzehnts prognostiziert, ist noch weit entfernt und mitnichten greifbar. Profitieren können allein die cleveren Unternehmer im Zwielicht, die die Spielräume der Gesetze bestens kennen und ausnutzen, die Inhaber von Boutiquen, Cafes oder Handwerksbetrieben. Und natürlich die Reiseveranstalter.

Mittlerweile gibt es keine staatlichen Reiseunternehmen mehr in Ungarn. Selbst der einstige Monopolist auf diesem Gebiet, IBUSZ, hat seine Strukturen vom Staat gelöst und macht nun auf Gesellschaft. Daneben tummeln sich Dutzende privater Touristikanbieter mit zum Teil repräsentativen Büros und zum Teil abenteuerlich winzigen Hinterhofstübchen. Ganz gleich ob sie nun „Top Travel“, „Express Tours“, „Buda -Tourist“ oder beispielsweise „Blaguss“ heißen, der Kunde wird an fast allen Tresen erst einmal langwierig ignoriert, bevor man sich seiner auch nur mit einem Blicke annimmt. Das Geschäft floriert, da kann der Fernsüchtige ruhig eine Weile dümmlich im Raume herumstehen wie später während der Reise noch mehrmals.

Fernweh und

was davon bleibt

Da es nicht nur Magyaren ins nahegelegene Österreich zieht, sondern nun auch die in Budapest billig unterkommenden DDR -Touristen von hier aus das solange umträumte Wien sehen wollen, rennt man einige Zeit umher, bis man ein paar freie Plätze für eine Tagestour zur nächsten Donauhauptstadt findet.

Eine einfache Busfahrt von Budapest nach Wien kostet um die 500 Forint (etwa 15 DM). Die beiden Expreßzüge zwischen Wien und Budapest schlagen trotz 40prozentiger Ermäßigung zum Ankurbeln des Reiseverkehrs mit mehr als 1.500 Forint zu Buche und sind gänzlich indiskutabel. Hinzu kommt die nur kurze Aufenthaltsmöglichkeit rund um den Stephansdom, dann muß bereits wieder der Rückweg angetreten werden. Also: Ein Reisebüro muß aushelfen.

„Helvetia Travel“ heißt ein winziges Unternehmen, das sein zweizimmriges Etablissement mit drei Mitarbeitern auf dem Hinterhof eines ehemaligen Bauernhäuschens in Obuda hat. Die ungarische Hauptstadt hat hier noch eher ländlichen Charakter. Zwar rattert eine Straßenbahn zwischen den bröckeligen Häusern entlang, die Stallungen neben den breiten Hoftoren haben jedoch, wenngleich heute als Garagen genutzt, den Duft von Kühen und Pferdemist noch nicht allzulang aus ihrem Gemäuer entlassen.

Janos von „Helvetia Travel“ ist am Telefon gleich freudig erregt. Natürlich können wir morgen den Tagesausflug nach Wien machen. Selbstverständlich sind noch Plätze frei. Wir sollen nur gleich vorbeikommen. Nebenbei, welche Nationalität wir denn hätten? Deutsch und ungarisch. Na, dann ist ja alles in Ordnung. Die Deutschen sind ja nun auch schon fast alle gleich, und solange keine Rumänen dabei sind, sei alles bestens. Mit denen gebe es nämlich immer Ärger an den Grenzen ...

Janos ist ein lockerer Jüngling mit glitzerndem Steinchen im Ohr und lässig wippender Ted-Frisur a la 50er Jahre, die Kleidung gehobene Mittelklasse, sportlich-elegant. Mit den 350 Forint und 20 Schillingen, die jeder Reiseteilnehmer zahlen muß, so rechnen wir später nach, kann er gerade eben den gemieteten Bus samt Benzin bezahlen. Und kommt trotzdem auf seine Kosten, denn Janos hat schnell reagiert.

Einkaufsbummel

bei „KGM“

Wer sich um fünf Uhr früh mit verschlafenen Augen am Budapester Südbahnhof einfindet und sich vor dem Platznehmen im Ikarus-Bus-Sessel nicht eingehender über das Programm informiert hat, erfährt höchst erstaunt, daß man gegen halb neun kurz hinter der österreichischen Grenze in Bruck bei „KGM“ eine dreistündige Pause einlegen werde. Von dreizehn Uhr bis halb vier kann dann später in Wien gebummelt werden. Die Ungarn, die teilweise gerade wegen der geschäftlichen Seite solcher Fahrten gebucht haben, sind nicht so empört wie die mitfahrenden DDRler, die meinten, endlich k.u.k. live erleben zu können.

Da hilft kein Gezeter. Janos informiert über die Zollbestimmungen, witzelt auf ungarisch, daß Waffen und Sprengstoff bitte sorgsam versteckt werden mögen, und er werde den Fahrer hin und wieder wecken, während die Gäste ruhig schlafen könnten. Pünktlich um halb neun knirscht der Split vor dem Supermarkt namens „KGM“, was immer ein wenig an einen bekannten Geheimdienst erinnert.

Nach der großen Auswanderungswelle vor drei Jahren, die der Einführung des neuen Steuersystems in Ungarn gefolgt war, ließen sich zahlreiche Magyaren gleich hinter der Grenze nahe beim Neusiedler See nieder. Diese sind jetzt mit flinker Zunge dabei, wenn es gilt, die anreisenden Landsleute mit Werbeaktionen vollzupflastern. Nur die Hände aufhalten sollten sie, und schon liegen fünf schwarzglänzende Parfüm- und Deopackungen darin. Alles gratis, als kleine Aufmerksamkeit von der Firma Ferrari. Nur die sechste Packung müsse man halt mit lächerlichen 300 Schillingen bezahlen, andernfalls solle man das bereits erhaltene wieder abliefern ... Und der eine oder andere schämt sich dann doch ein wenig, aus Knausrigkeit, wie er meint, alles wieder herauszugeben, und berappt.

Weil außer dem Kaufhaus - „KGM, alles was das Herz begehrt“, säuselt ein süßlicher Chor aus dem unsichtbaren Lautsprecher - weit und breit nichts ist, bleibt nichts weiter übrig, als sich die Zeit mit einem Einkaufsbummel zu vertreiben. Kaum einer kommt ohne ein paar Sächelchen im Korbe aus dem Regalirrgarten zurück. Die Rechnung geht auf, und Janos kassiert seine Prozente, seinen wirklichen Gewinn bei der Reise. Wieviel, will er nicht sagen.

Wer bei dem integrierten Juwelier kauft, soll Janos die Quittung geben. Eine umständliche Geschichte von Mehrwertsteuer und Zollfreiheit haspelt der Reiseleiter als Begründung herunter - auch hier nimmt er am Umsatz bei Zuführung von Kunden teil.

Röstfrische Bohnen

für Forinth

Dem Juwelier gegenüber befindet sich eine Sonderverkaufsstelle für Kaffee in Kilopaketen. Weil man weiß, daß die Ungarn viel Mocca trinken und jener zu Hause sehr teuer ist, halten wiederum entlaufende Csardasfürsten für Schillinge und auch für Forint röstfrische Bohnen im ganzen oder bereits gemahlen wohlfeil. Janos, der auch hier seinen Anteil bekommt - „wir gehen alle gemeinsam hinüber, meine Herrschaften!“ - kauft gleich ein Dutzend goldglänzender Pakete und wird sie in Budapest zum doppelten Preis spielend absetzen können.

Als auch die letzten vor quälender Langeweile von einem Fuß auf den anderen treten und alle prallen Einkaufsbeutel im Bus verstaut sind, bricht man eine Viertelstunde verfrüht gen Wien auf. Auch die Leute aus der DDR haben von den getauschten Schillingen einige im „KGM“ gelassen. Was nicht viel ausmacht, denn beim kurzen Aufenthalt rund um die Kärntner Straße und den Stephansdom kommt man eh kaum dazu, etwas auszugeben. Die Zeit ist zu knapp, und der romantische Kaffee am Boulevard ist viel zu teuer. So besichtigen die gutmütigen und netten Landsleute aus Berlin und Dresden lieber das etwas abseits gelegene Hundertwasserhaus und müssen auch schon hasten, um den Bus noch rechtzeitig zu erreichen.

Janos erklärt bei der Ausfahrt aus der Stadt, was er beim Hereinkommen noch nicht erklärt hat. Todmüde und genervt erreicht man den Südbahnhof in Budapest gegen acht Uhr am Abend. Ein schöner Tag in Wien: für dreieinhalb Stunden.

Während dieser und jener Ungar zufrieden mit seiner Handelsbeute abzieht, reicht Janos den Damen das Händchen und verabschiedet die Herren. Er habe auch Reisen nach Venedig und Athen im Proramm, flötet er galant, derweil Helmut aus Dresden verhalten giftet: „Mein Gott, wie viele Supermärkte werden da denn am Wege liegen?“ Während Janos noch seinen Kaffee beiseite wuchtet, ziehen die Gäste von dannen. Ob sich für sie die Reise gelohnt hat, ist nicht gewiß. Für Janos hat sie es sich auf alle Fälle: Sein Tag war kurvajo - „hurengut“, wie der Ungar sagt.