: Zensur ist nie vorbei
■ Zur Situation der Schriftsteller in Südafrika nach dreißig
Jahren Zensur
Von Nadine Gordimer
In ihrer Rede am 2.Juni dieses Jahres vor dem englischen PEN in London ging die südafrikanische Schriftstellerin zunächst auf die Tatsache ein, daß die strikteste Zensur in Südafrika nicht mehr gegen Schriftsteller, sondern gegen Zeitungs-, Radio- und Fernsehjournalisten ausgeübt wird. Sie erinnerte außerdem daran, daß auch nach der Aufhebung vieler Verbote im Februar immer noch über hundert Gesetze existieren, die den freien Fluß von Informationen beschränken und an denen auch die „neue Aufgeklärtheit“ der Regierung unter de Klerk nichts geändert hat. Im letzten Drittel ihrer Rede beschäftigte sie sich mit der Situation der Schriftsteller in Südafrika nach dreißig Jahren Zensur.
Wir alle, die wir heute in Südafrika schreiben, haben unser aktives Arbeitsleben entweder schon unter den Bedingungen konventioneller Zensur und den Fesseln ihrer Gesetze begonnen oder doch seinen größten Teil darunter verbracht. Auch wenn die meisten von uns sich an ihnen wundgescheuert und viele sie heftig bekämpft haben, so haben wir uns doch an die Zensur gewöhnt. Um Graham Greene zu paraphrasieren: Jedes Land gewöhnt sich an seine eigenen Beschränkungen als Teil seines eigenen Gewaltpotentials. Wir haben der Zensur getrotzt oder sie umgangen. Gleichzeitig jedoch hat sie, und das ist unvermeidlich, tiefgreifende Folgen auf uns gehabt.
Im letzten Jahr nahm ich an der Wheatland-Konferenz in Ungarn teil, und die Sitzung, die unseren gastgebenden Kollegen, den ungarischen Schriftstellern, gewidmet war, brachte bei ihnen etwas zum Vorschein, was ich nur die Angst vor der Freiheit nennen kann - eine Angst, die für einen Schriftsteller bedeutet, nicht zu wissen, wie man weiterschreiben soll. Obwohl sie als Bürger vor Freude über ihre neue Freiheit überwältigt waren, so waren sie doch verwirrt und unsicher über die Bedeutung, die diese Freiheit auf einer intimeren Ebene haben kann, auf der nämlich die Transformation vom Leben zum Schreiben stattfindet. Eine Nachwirkung von Zensur, an die wir, glaube ich, nie gedacht haben, ist die beunruhigende Tatsache, daß nach der Befreiung vom Schraubstock die enge, verzerrte Imagination des Schreibenden zutage tritt.
Die Angst
vor der Freiheit
Wenn ich von reaktiven Folgen der Zensur spreche, dann meine ich damit auch den Gegendruck des Widerstands. Nicht nur der Druck der zensur, auch der Gegendruck schraubt die Zwinge enger, so grotesk das erscheint. Die Nichtachtung der Zensur und der Regierung, der sie dient, provoziert den Schreibenden, seine Arbeit als Waffe zu verstehen. Aber in diesem Prozeß muß er vielleicht vieles von dem verwerfen, was sein eigentliches Wissen ausmacht. Ihm wird nahegelegt, daß nur bestimmte Themen relevant sind, ein bestimmter Ton wirkungsvoll ist. An die Beschränkung von Allegorie und Andeutung gewöhnt, müssen sich unsere osteuropäischen Kollegen jetzt beibringen, wie zu wählen ist zwischen den zahllosen anderen Formen, die es gibt, um die Erfahrung des Lebens zum Ausdruck zu bringen. An den Zwang gewöhnt, jede Situation und jedes Wort auf den Munitionswert gegen die Apartheid hin überprüfen zu müssen, müssen südafrikanische Schriftsteller jetzt ein vollkommen neues Alphabet lernen: das des Lebens.
Viele sind schlecht vorbereitet, besonders die Jüngeren. Denn überall, wo es Zensur gab, hat es auch die Gegenwirkung einer Widerstandsorthodoxie in der Literatur gegeben. Es ist eine Ära gewesen, in der, in Brechts Worten, „von Bäumen zu sprechen, Verrat“ bedeutete. Und um noch einmal Albie Sachs1 zu zitieren: „Statt Kritik haben wir solidarische Kritik. Unsere Künstler sind nicht dazu gedrängt, die Qualität ihrer Arbeiten zu verbessern, es reicht, politisch korrekt zu sein (...) Es ist, als ob unsere Herrscher auf jeder Buchseite herumschleichen, (...) alles ist besessen von den Unterdrückern und dem Trauma, das sie verursachen (...) Wofür kämpfen wir denn, wenn nicht für das Recht, unser Menschsein in allen Formen auszudrücken, einschließlich unseres Spaßes, unserer Liebesfähigkeit, unserer Zärtlichkeit und unserer Achtung vor der Schönheit der Welt?“
Die Orthodoxie
des Dagegenseins
Wir dürfen nicht denken, daß mit dem Fall eines Tyrannen und mit dem Inkraftsetzen einer neuen Verfassung die Schreibenden alles zurückgewinnen, was verloren war. Es geht nicht darum, daß man nichts mehr hat, über das man schreiben könnte. Nur diejenigen, die nichts anderes in ihrem Gepäck hatten als Anti-Apartheid oder Anti-Kommunismus, inklusive der richtigen Klischees, werden ihre ohnehin zweifelhafte Inspiration verlieren und andere Wege finden müssen, sich zu verkaufen. Die wirklichen Schriftsteller werden sich dagegen der weniger sensationellen, aber wunderbaren Herausforderung stellen, sich mit Themen beschäftigen zu können, die man beiseite gelassen hat, solange das Schreiben im Kampfanzug vonstatten ging: dem Menschlichen in all seinen Formen, dem menschlichen Bewußtsein in all seiner Rätselhaftigkeit - und das verträgt keine Orthodoxie, sondern verlangt Talent und Bereitschaft zu freier Erkundung und Vermittlung durch persönliche Empfindung. Viele Schriftsteller haben durch die Beschränkung der Zensur einerseits und die Orthodoxie des Dagegenseins andererseits nie die Fähigkeit entwickeln können, sich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen als dem, was Ereignisse und Gefühle ihrer historischen Situationen ihnen vorschrieben.
Und was ist mit dem Schriftsteller im Exil? Bedeutet die Möglichkeit der Rückkehr für Kundera und Milosz, daß ihnen, sobald sie den Fuß dort wieder aufsetzen, die verlorenen Jahre der Entwicklung in ihrer Heimat automatisch zurückgegeben werden? Wer kann den südafrikanischen Schriftstellern im Exil - Dennis Brutus, Mongane Wally Serote, Mandla Langa und vielen, vielen mehr - die Erfahrung von Leben und Sprache ihres Volkes wiedergeben, die Existenzbedingung und tägliches Brot des Schriftstellers sind und auf die sie verzichten mußten?
Es gibt nicht eine einzige Form von Zensur, die keinerlei Einfluß auf die Sensibilität eines Schriftstellers hätte, egal, ob es dabei um Jahre geht oder um nur ein isoliertes Ereignis. Nachdem er 1857 den Unsittlichkeitsprozeß wegenMadame Bovary gewonnen hatte, schreibt Flaubert über eine weitere Folge der Zensur, die falsche literarische Bewertung: „(...) mein Buch wird sich für das Erstlingswerk eines Schriftstellers ungewöhnlich gut verkaufen. Dennoch bin ich wütend, wenn ich an den Prozeß denke; er hat von dem künstlerischen Wert des Romans abgelenkt, und ich bin sehr ungern assoziiert mit Dingen, die ihm vollkommen fremd sind. Dieser ganze Streit hat mich so ungeheuerlich aufgestört, daß ich am liebsten in das Schweigen und in die Einsamkeit, aus denen ich kam, zurücksinken möchte, und zwar für immer; nichts mehr veröffentlichen; nie mehr Gegenstand des Geredes sein.„2
Flauberts traumatisierte Reaktion - nur eine von vielen auf die Entstellungen, die die Zensur dem Leben zufügt - bringt mich auf Salman Rushdie.
Nichts wird
Salman Rushdie
am Schreiben hindern
Rushdie ist heute nicht hier, verdammt zu Abgeschlossenheit, Schweigen und Einsamkeit, Gegenstand endlosen Redens unter der grausamsten und perversesten Form von Zensur, die dieses Jahrhundert hervorgebracht hat - selbst den Gulag möchte ich dabei nicht ausnehmen. Salman Rushdie ist ein Schriftsteller von außerordentlicher Vitalität und großem Talent, und nichts wird ihn am Schreiben hindern. Aber auch wenn er sich wieder frei in der Welt bewegen kann, wird nichts ihm die Zeit zurückgeben können, die verbrecherische Religionsfanatiker ihm genommen haben, und nichts kann seinem Roman, sei er auch gereinigt von den Spuren schmutziger Hände, die ihn so grob anfaßten, die Aufmerksamkeit zurückgeben, die ihm allein gebührt: die Aufmerksamkeit für ein Werk der Kunst.
Selbst wenn wir die Wiedererlangung der Freiheit für Schriftsteller in vielen Ländern mit großer Freude begrüßen und weiterkämpfen für die Freiheit anderer in anderen Ländern, in denen noch immer Zensur herrscht - und manche der Verfolger tragen ihre Knebel und Gewehre und Bücherverbrennungen über die ganze Erde -, so müssen wir immer daran denken, daß Schriftsteller sich von ihrer Vergangenheit nie befreien können. Zensur ist nie vorbei für die, die sie erlebt haben. Sie ist ein Mal auf der Imagination, und wird sie für immer beeinflussen. Wenn die Zensur jetzt hinweggefegt scheint mit den Trümmern gestürzter Regime, müssen wir doch aufpassen, daß sie für kommende Generationen von Schriftstellern in der im Neubau befindlichen Welt nirgendwo wiederkehrt im Dienste neuer Regierungen.
Barbara Makela, Sekretärin für Kultur im ANC, hat es deutlich und für alle von uns so formuliert: „Wir werden nicht hinnehmen, daß Kultur aufhört, sich zu entwickeln und im Moment der Befreiung stagniert. Und wir werden auch nicht mit einer Kultur vorliebnehmen, die allzu leicht zum Besitz einer künftigen, unterdrückerischen Herrscherklasse werden könnte.„3
1 Albie Sachs: Preparing Ourselves for Freedom. ANC-Seminar zur Kultur, 1990
2 Gustave Flaubert: Briefe 1830-1857
3 Barbara Maskela: Possible Strategies for Culture in a Post -Apartheid South Africa. Vortrag vor der Unesco-Working Group on Apartheid, Dakar (Senegal) im November 1989
Nadine Gordimer, die wohl bekannteste Schriftstellerin Südafrikas, hat jahrzehntelang unter den Bedingungen der Zensur geschrieben. In deutscher Übersetzung liegen u.a. vor: Anlaß zu lieben (Roman), Fremdling unter Fremden (Roman), Burgers Tochter (Roman), Clowns im Glück(Erzählungen), Entzauberung (Roman), July's Leute (Roman) und Eine Stadt der Toten, eine Stadt der Lebenden (Erzählungen) - alle im Fischer Taschenbuch Verlag. Im Fischer Verlag liegt der Roman Der Besitzer vor. Im September erscheint bei Bloomsbury, London, ein neuer Titel von Nadine Gordimer: My Son's Story.
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