Die Kurden zwischen allen Fronten

■ An der alten Seidenstraße in der Türkei herrscht Angst ums Überleben / Wirtschaft am Boden

Aus Cizre Lissy Schmidt

Die Brücke über den Tigris, Wahrzeichen der kurdischen Kreisstadt Cizre, verbindet den türkischen Teil der historischen Seidenstraße - die heute passender Ölstraße heißen müßte - mit dem Irak. „Sie wird eines der ersten Angriffsziele sein, wenn es losgeht“, sagt der Bürgermeister von Cizre, Hasim Hasimi. „Das ist ein Krieg, den die USA und die Nato gewollt haben und den im Ernstfall die Bevölkerung von Cizre und Silopi teuer bezahlen wird. Die westlichen Staaten haben nach dem Waffenstillstand im Golfkrieg für achtzig Millionen Dollar Waffen an den Irak verkauft. Haben die etwa geglaubt, daß Saddam sich die Waffen ins Wohnzimmer stellt?“

„Saddam ist zu allem fähig“, ist die stereotype Antwort auf die Frage, ob denn mit einem Krieg gerechnet wird. Niemand in den kurdischen Regionen der Türkei hat Halabja und die C -Bomben-Angriffe auf die kurdische Zivilbevölkerung im Nordirak vergessen. Viele Bewohner von Cizre und Silopi verloren Verwandte bei den Bombenangriffen. „Wir sind auch Kurden“, sagen sie, „warum sollte er uns nicht das gleiche antun?“ Immer wieder werden Europäer zur Rechenschaft gezogen. „Ihr Europäer habt Saddam erst die Waffen verkauft und dann zu Halabja geschwiegen. Warum regt ihr euch jetzt erst auf? Jetzt, wo es um euer Öl geht, wollt ihr eingreifen, und wiederum sollen wir die Rechnung bezahlen.“

Die Rechnung haben die Laden- und Lokalbesitzer entlang der Seidenstraße, die Spediteure und Lkw-Fahrer jetzt schon präsentiert bekommen. Zu normalen Zeiten kommen hier 50 bis 60 Laster in der Minute vorbei und bringen Öl vom Grenzpunkt Habur zum Mittelmeerhafen Iskenderun. Jetzt ist die Straße gähnend leer. Die zahlreichen Läden, in denen die Fahrer Geld tauschten und letzte Einkäufe erledigten, sind geschlossen. Die Kreisstädte Cizre und Silopi, deren einzige Einkommensquelle dieser Handel ist, stehen kurz vor dem Ruin. „Saddam hält das Embargo länger durch als wir“, erklärt ein Restaurantbesitzer aus Silopi. „Wenn es noch zwei Wochen so weitergeht, dann muß ich meinen Laden endgültig zumachen. Dann muß ich halt zusammenpacken und auch in die Großstadt ziehen.“ „Warum zahlt uns der Staat keine Entschädigung?“ unterbricht ihn ein anderer Ladenbesitzer, der mit Tee aus dem Irak handelte und heute vor leeren Regalen steht. „Der Exherrscher von Kuwait hat den Herrschenden in Ankara Millionen zugesagt. Aber uns hat niemand gefragt, was wir von einem Embargo halten. Der Staat kassiert für das Embargo, wir zahlen.“

Neben den ökonomischen Problemen macht sich Angst ums Überleben breit. Die Bevölkerung beobachtet seit dem vergangenen Montag verstärkte Truppenbewegungen in Richtung Grenze. Selbst die grenznahen Pilgerherbergen für die Mekkapilger werden momentan in Heereslager umfunktioniert. Vergangenen Samstag wurden vor aller Augen Gasmasken an die nahe Cizre stationierten Soldaten verteilt. „Wenn die Soldaten Gasmasken brauchen, dann haben wir auch welche nötig“, hört man überall. Doch bis heute haben die offiziellen Stellen noch nicht einmal über die elementarsten Verhaltensmaßregeln bei einem C-Waffen-Angriff informiert. Viele Kurden heben Unterstände aus, die sich im Ernstfall zu fürchterlichen Fallen entwickeln würden: Daß Senfgas schwerer ist als Luft, weiß kaum jemand. Eine Frau, die ihrem Mann bei den Grabarbeiten hilft, meint bitter: „Wir sind doch alle Kurden. Je mehr von uns sterben, desto besser für Saddam und Özal.“

Hinter verschlossenen Türen wird Radio gehört. Die „Kurdische Front Irak“ berichtet von 15.000 bewaffneten Peschmerga, die zum Angriff auf Saddam bereitstehen. Das illegale Radio der PKK verurteilt die „Aktionen der Imperialisten“. Beides löst in der Region eher Besorgnis aus. „Wir dürfen uns mit keiner Seite verbünden, sondern müssen uns gegen jeglichen Krieg auf unserem Territorium wehren“, ist die allgemeine Meinung. Ein junger Mann sagt: „Wir müssen hier Antikriegspolitik betreiben. Kein Kurde kann auf seiten Saddams stehen, aber Kuwait und die Interessen der Imperialisten sind uns auch herzlich egal. Wir wollen nicht für sie sterben.“