Universitätsklinikum

 ■ Seitenblicke auf Rädchen und Getriebe

Von Gabriele Goettle

„KRANKENHAUS (Hospital), früher großer Massivbau mit langen Korridoren, jetzt Blocksystem mit leicht und luftig gebauten Pavillons...„

Meyers Handlexikon, Leipzig Wien, 1893

Beim Bau des Klinikums hat man auf die Grundprinzipien des Modells von vorgestern zurückgegriffen. Dabei sind Korridore von schier unübertrefflicher Länge entstanden. Vom luftigen Pavillonsystem ist nichts geblieben als eine architektonische Reminiszenz in Form verkommener Wasserlandschaften, die schwärzlich und trist durch leere Innenhöfe plätschern, angetrieben von Umwälzpumpen. Diese Innenhöfe sind nichts als notwendige Zwischenräume, altbekannte Lichtschächte. Zwischen den Bettenhäusern, in denen turmhoch die Patienten gestapelt sind, und den Flachbauten hat man Lücken freigelassen, aber nur, um das Modell etwas aufzulockern. Dem gleichen Zweck diente auch die Fassadenverkleidung aus durchbrochenen Ornamentplatten vor den Flachbauten und die vorgebaute Betonpfeilerverstrebung an den Türmen. Wobei letztere suggeriert, zu jedem Zimmer gehöre ein Balkon. Was zur Milderung massiv hinbetonierter Wucht gedacht war, hebt sie heute hervor; der Beton verfärbt sich schwärzlich, die Verblendung bröckelt.

Innen wuchert ein medizinischer Hochleistungsbetrieb. Es wird diagnostiziert, therapiert, verdatet, beforscht. Heerscharen junger Mediziner lernen, direkt am Patienten, die mustergültigsten Krankheiten kennen. Hinter den Türen der OPs werden mit lässiger Routine Leben gerettet, werden Beschädigungen zu Lappalien, an denen in anderen Weltgegenden unweigerlich gestorben wird. Auf den polierten Fluren eilen unentwegt Weißbekittelte vorbei, überholen die dahinschlurfenden Kranken im Vollgefühl überquellender Energie. Wo die Fäden zusammenlaufen, wer die Fließbänder steuert, alles fabrikmäßig durchorganisiert, verwaltungstechnisch bis ins Detail erfaßt, bleibt unsichtbar.

Die Verwaltung organisiert alles, bis hin zum Gemüsekauf für die Großküche. Sie meldet sich sogar am Telefon und gibt Auskunft. Ich möchte wissen, ob man, ebenso wie das Oskar -Helene-Heim, Obst und Gemüse von einer der Ostberliner LPGen beziehe, sozusagen als Solidaritätsbeitrag. Denn immerhin war das Klinikum Steglitz einstmals Hochburg der SEW, mit Genossen in der Professorenschaft bis hinein in die Verwaltung. Ein Herr erläutert mir das Problem: „Na sehnse mal, wer solln das putzen und verlesen das Jemüse?“ Es habe sich mal, irgendwann im März schon, eine LPG aus Klein Schulzendorf gemeldet wegen Blumenkohl usw., aber nie mehr etwas von sich hören lassen.

Der widersprüchlichen Praxis von Sparsamkeit und Verschwendung kommt der Außenstehende nicht auf den Grund. Ein gewaltiger materieller Reichtum ist einfach so vorhanden, kommt gar nicht weiter zum Vorschein, weil er nur dasteht, als würde er hier hingehören. Beispielsweise die Betten: Chromblitzende Kunstwerke und so kompliziert, daß man den Mechanismus erst eine Weile ergründen muß. Durch leichtes Bewegen kleiner Hebelchen läßt sich der Bettrost samt Patient hydraulisch in alle möglichen Positionen bringen. Massen von Einwegmaterialien werden täglich verbraucht, vieles davon gibt's in den ärmeren Ländern nicht mal in wiederverwendbarer Ausführung. Aber selbst Gegenstände, die so selbstverständlich wirken, daß sie nicht mehr auffallen, lösen bereits bei DDR-Bürgern Verwunderung aus. Auf der chirurgischen Wachstation waren unlängst 20 Krankenschwestern aus dem Uni-Krankenhaus Buch (in Ost -Berlin) zu Besuch. Man behandelte sie mit feiner Herablassung, beantwortete in kurzer arroganter Manier ihre Fragen nach ihnen unbekannten technischen Geräten. Alle hatten einen wehmütigen Ausdruck im Gesicht, der sich dann plötzlich angesichts einer edelstählernen Bettpfanne entlud: „Also ne, sowas gibt's bei uns nicht. Unsre sind emailliert, und vielleicht, die ganz schweren Fälle, ham ein Vorrecht auf eine ohne abgeplatzten Rand...“ resümierte gekränkt eine der jungen Schwestern von der Wachstation Ost.

Daß bei aller Materialschlacht gegen Krankheit und für die Hygiene anderswo wieder gewaltig eingespart wird, beispielsweise bei der menschlichen Arbeitskraft, tröstet die DDRler nicht, die wesentlich mehr zu arbeiten haben und weniger verdienen als ihre westlichen Kolleginnen.

Es wird, wie überall im Sozial- und Pflegebereich, keine der notwendigen Planstellen geschaffen, solange sich aus der vorhandenen Arbeitskraft Zusatzleistungen herausbeuten lassen, die man dann mit Überstundenvergütung oder sonstigen Zulagen billig abspeist.

Und weil ja ein solches Klinikum modern und um Anschluß ans internationale Niveau bemüht ist, praktiziert man Teamarbeit nach amerikanischem Modell. Es besteht im Prinzip - hier jedenfalls - lediglich darin, das knappe Personal möglichst nutzbringend aufzuteilen. So agieren nun vier „Pflegeteams“ pro Station in jeweils fix zugeteilten Patientenzimmern. Das System spielt raffiniert mit der Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Verantwortung, wirkt subjektiv wie eine Entlastung. Objektiv ist die Arbeit dieselbe, das Verhältnis elf Patienten pro Schwester bleibt und läßt kaum Zeit für ein persönliches Gespräch oder weniger Hektik.

Ein rätselhafter Vorgang ist das Zeitsparen. Überall wird Zeit eingespart, oft durch Anwendung rüdester Methoden. So werden z.B. im OP mit Vorliebe die äußeren Schnittflächen nicht mehr in herkömmlicher Manier genäht, sondern geklammert. Dem Bewußtlosen wird wie einer Kiste nach Übersee mit dem Tacker der Deckel zugeknallt und schon ist alles fertig zum Verladen. Nur, was macht nun das Operationsteam mit der herausgeschundenen Zeit? Es nimmt sich „eine Galle“ mehr vor usf. Da aber außer dem Chefarzt niemand etwas von höheren Stückzahlen hat, ausgenommen die Krankenhauskasse, scheint es so, als produziere das System seine eigenen Strudel, in denen es sich selbst immer wieder mitreißt, in denen das Personal, unabhängig vom Stand innerhalb der Hierarchie, sich nach Kräften verschleißt für den Antrieb der großen Maschinerie.

Wo derart viel Druck herrscht, verursacht durch zu wenig Zeit, Pannenangst, nicht zuletzt auch innerhalb der differenzierten Rangordnung, kommt es zu merkwürdigen Übersprungshandlungen. So herrscht beispielsweise zwischen einfachen Ärzten und Schwestern, zwischen Schwestern derselben Station und natürlich zwischen den Schwestern zweier verschiedener Stationen, eine vollkommen verschiedene Auffassung über die korrekte Befestigung eines Infusionskatheters am Patientenkörper. In der Praxis nimmt dann dieses jeweilige Beharren auf Vorbildlichkeit groteske Züge an. So wird zum Beispiel auf der Wachstation dem Patienten der im OP auf den rechten Handrücken mit viel Pflaster aufgeklebte Infusionsanschluß gnadenlos abgerupft. Es hilft kein Protest, nicht der Hinweis, sich gerade mühsam an das Monstrum gewöhnt zu haben. Nein, vorschriftsmäßig hat nun alles am rechten Oberarm zu sitzen, das Katheterröhrchen muß über dem Schlüsselbein spiralförmig gelegt und aufgeklebt werden, damit die Flüssigkeit ungehindert in den Körper gelangt, statt durch Armbewegungen gehemmt zu werden. Dem Spätdienst hingegen sitzen die Anschlüsse zu hoch unter dem Ärmel. Beim Wechsel hinüber auf die chirurgische Station gar wird dem Patienten noch auf dem Flur, mit strengem Blick und geübter Hand, das Arrangement vom Oberarm entfernt. „Vorsicht, es ziept ein bißchen“, ist der immer gleichlautende Begleittext. Dann wird der „vollkommen falsch“ plazierte Katheter auf dem Brustbein verklebt und zwar so, daß er beim Sitzen exakt auf die frische Wunde drückt. Falsch ist aber in diesem bedauerlichen Fall die Wunde plaziert. Das ist nur eins von vielen Beispielen, und es zeigt auch symptomatisch auf ein Problem, nämlich das des Patientenkörpers, der immer mangelhaft zugänglich ist, den die Segnungen der Moderne noch nicht erreicht haben, der stört im Getriebe.

Ergänzten sich nämlich Ärzte und Pflegepersonal, trotz Reibereien innerhalb der Rangordnung und Kompetenz, bestens, so mag der Patient sich irgendwie nicht so recht ins hierarchische Gefüge einordnen. Er bevölkert massenhaft Flure, Krankenzimmer und Behandlungsräume, steht überall im Weg herum, verirrt sich, muß sich übergeben, raucht an verbotenen Orten und versteht nichts von seiner Krankheit. Entweder renitent gegen sein Schicksal und die Instutition sich auflehnend oder resigniert und apathisch in alles gefügt, verkörpert er Chaos und Anarchie, gefährdet unentwegt das wohlgeordnete Gefüge aus medizinischer Verordnung und Hygiene.

Schon allein der Anblick all der Kranken, die unablässig über die langen Flure wandeln, ist bemerkenswert. Hier geht man natürlich nicht in seidenen Morgenmänteln mit diskreten Mustern, hier trägt die arbeitende Bevölkerung groß geblümt, pastellfarben und Polyesterfaser. Entsprechend sind auch die Krankheiten. Herzschrittmacher scheinen nicht zu den gebräuchlichsten Eingriffen zu gehören. Statt dessen sind Amputierte zu sehen, Kranke mit Kopfverbänden, Nasensonden, Augenklappen, operierten Kehlköpfen, Gliedern, Bäuchen. Bucklige gehen herum, Krüppel mit allen denkbaren Gebrechen, Schmerzgeplagte tragen ihren Dosimeter mit der eingespannten Spritze bei sich, angeschlossen an diesen schmerzbetäubenden Injektionsautomaten, Frischoperierte ziehen ihre fahrbaren Infusionsständer neben sich her, daß die oben aufgehängten Flaschen aneinanderstoßen. Sie alle streben zur Kantine, ins Raucherzimmer, zum Zeitungskiosk, in die Röntgenabteilung oder in den Garten. Ab 14 Uhr wandeln die Besucher mit, in Straßenkleidung, beladen mit Blumensträußen, Plastiktüten, der 'BZ‘ und Regenbogenpresse.

Einige der gebräuchlichsten Konventionen verlieren hier ihre Gültigkeit. Innerhalb der Stationen sieht man sich, lernt sich kennen, tagelang. Einander fremde Menschen beiderlei Geschlechts sitzen in Schlafanzug oder Nachthemd beieinander, plaudern vertraulich über Krankheit und Leben ohne irgendein Befremden. Vorstellen allerdings tut man sich gegenseitig nicht. Kaum jemand weiß, wie der Nachbar heißt, wozu auch, man begegnet sich sozusagen exemplarisch, als jeweiliger Vertreter seiner Krankheit. So innig die Atmosphäre auch immer aussehen mag, kaum kommt Besuch, taucht jeder wieder, gänzlich abgeschlossen nach außen, in seine Privatwelt ein. Dann aber, am Abend, liegt man nebeneinander, jeder auf seinem Bett und es ist durchaus möglich, die intimsten Familienverhältnisse geschildert zu bekommen. Ebenso kann es umstandslos passieren, daß eine Frau Mitte 60 ihr Nachthemd hebt, um den jungen Zimmerkolleginnen ihre von der Strahlentherapie verbrannte purpurrot verfärbte linke Brust zu zeigen.

Aber nicht nur die Krankheiten werden ausführlich kommentiert, es gibt eine sehr merkwürdige Mischung aus Lebensbericht und allgemeiner Lebensphilosophie des „gesunden Menschenverstandes“ zu hören. Offensichtlich kommt diese spezielle Mischung besonders hier an diesem Ort zustande. Die Rede ist durchsetzt mit schicksalsschweren Seufzern und „ach Gott“ und „ach ja, so isses“. Da ist zum Beispiel der frisch beinamputierte Mittfünfziger mit fliehendem Kinn und fliehender Stirn. Jeden Morgen fährt er in seinem Rollstuhl mit feuchter Wasserfrisur und hinten hochgeschlitztem Krankenhaushemd über den Flur Richtung Balkon. Der rechte Beinstumpf ragt steil in die Höhe, hochgerissen vom Oberschenkelmuskel der nichts mehr zu halten hat; fällt dann in Ruhestellung wieder neben den anderen Schenkel zurück. An der Balkontür angekommen, zündet sich der Krüppel seine erste Zigarette an und zwischen den Zügen kann man die detaillierte Geschichte seines Raucherbeins erfahren; daß auch das zweite Bein gefährdet sei und die Gattin dabei, ihre Koffer zu packen, weil er das Rauchen nicht einstellt, wo doch noch eine Menge Jahre bis zur vollen Rente zurückzulegen sind, „na, da machste wat mit in det beschissne Lebn“.

Eine Frau Anfang Vierzig erzählt, daß sie keinen Geruchssinn mehr habe und in was für „echt peinliche Situationen“ sie dadurch gerate. Beispielsweise neulich: „...also bei mir können se mit Maiglöckchen, mit nem faulen Ei... nutzt alles nichts, das ist von dem Chlor, den ich heiß eingeatmet habe. Ich fahre also im Aufzug auf meiner Arbeit, morgens um sechse, sind alle so still, is so ne komische Stimmung, ziehn die Gesichter und schauen irgendwie hin zu dem Mann, aber da sagt keiner was. Wir steigen aus im Vierten und da sagen alle: 'Na sage mal, was issn mit Dir los? Das macht Dir wohl gar nichts aus? Wir dachten alle, wir spinnen, so wie der Türke gestunken hat!‘ Und ich sage: 'Also nee, das tut mir echt leid, ich rieche nichts, das is nicht böse Absicht, die is kaputt die Nase.‘ Na ich sage Ihnen, in so einem Moment, da isses einem ja richtig peinlich daß man nichts riecht.“

Im Brustton reinster Güte und Redlichkeit erzählt eine 63jährige Hausfrau einiges aus ihrem Leben. Sie läßt das 'Goldene Blatt‘ sinken und legt es auf den Stapel 'Frau mit Herz‘, das eigene Schicksal ist letztlich doch immer ergreifender als das von Millionärswitwen oder alternden Fürsten. Nächste Woche wird sie an der Galle operiert. Neben ihr, die dunkle üppige Flüchtlingsfrau aus dem Libanon hat es schon hinter sich. So hat jeder seine Geschichte. Die Hausfrau zum Beispiel war als Halbwüchsige im Pflichtjahr Dienstmädchen bei der Großbourgeoisie, nebenan wohnten die Ardennes. Daran erinnert sie sich gut, wie eindrucksvoll der junge Mann in der Uniform ausgesehen hat.

Später verlor sie beinahe einen Fuß durch einen betrunkenen Autofahrer, und den zweiten fast bei einem selbstverschuldeten Autounfall. Beide konnten aber wieder angenäht werden. Der zweite Unfall hat ein Verschüttungstrauma aufgelöst und damit zugleich die zwanzig Jahre währende Empfängnislosigkeit. Mit 43 entband sie einen zarten Knaben, der heute bereits eine Banklehre macht und gern Krawatten trägt. Er kommt immer nach Hause zu seiner Mutti, auch am Wochenende.

Um die Libanesin zu trösten, äußert sie sich zum Fremdenhaß: „Mir ist jeder recht, egal welche Farbe. Wir sind ja alle nur Menschen, stimmt's nicht? Genau dasselbe mit den Juden damals. Ich hab's ja mitgekriegt. Die Eltern hatten einen kleinen Baufachhandel und haben immer geliefert da... hin nach... na... jetzt isses ja weg das KZ... nach Oranienburg. Sind sie rausgefahren und haben geliefert. Die Häftlinge haben abgeladen und die von der SS haben die Papiere unterzeichnet. Na mir kann keiner was erzählen, er wußte nich, was das ist mit der SS und den Lägern. Meine Eltern ham so einen Haß gehabt auf die SS, aber so, aus geschäftlichen Gründen ham Vater und Mutter nichts gesagt. Da war ich damals schon ganz entsetzt, daß es sowas überhaupt gab, wie sie die behandelt haben. Das darf mir keiner sagen, daß er nichts gewußt hat, alle haben es gewußt. Was sie mit den Juden angestellt haben, das ist ein Verbrechen... Ich hab damals schon gesagt, die hätten alle Juden in die alten Häuser, die damals fünf Stock und höher waren, bringen müssen, alle Juden in den obersten Stockwerk unterbringen sollen... weil, kein Engländer, kein Amerikaner hätte auf Berlin ne einzige Bombe geworfen...“

Die Libanesin ist eingeschlafen, draußen dämmert es bereits. Die Tauben auf den Gesimsen vor den Fenstern haben ihre Abendration an weggeworfenen Tabletten und Brotresten bereits verzehrt. Nach und nach kommen, wie allabendlich, riesige Krähenschwärme aus dem Süden der Stadt und versammeln sich auf den Dächern des Klinikums. Sie gehen auf und ab, am liebsten bei den Abluftöffnungen der Klimaanlage über dem OP-Trakt, offensichtlich ist's dort erfrischend kühl. Nach einer Weile erheben sie sich auf ein geheimnisvolles Zeichen hin in die Luft, drehen in den warmen Aufwinden einige Runden und fliegen dann gemeinsam zu ihren Schlafbäumen am Teltowkanal.