Übermacht des Ostens

■ Die 23. Kanu-Weltmeisterschaft im Lichte der weltpolitischen Lage: Die polnischen Gastgeber klotzen in altem Stil, Osteuropa kassiert die Medaillen und der Westen seine Trainer

Aus Poznan Hagen Boßdorf

„In Polen hat der Sozialismus am gründlichsten gesiegt. Hier liegt fast alles am Boden“, erklärt mir jemand in Poznan. Aber schon kurz danach zeigt er mit typischem Nationalstolz das Stadtbild, und der nagelneue Malta-See im Süden der Industriesiedlung bekommt dabei eine Lobeshymne nach der anderen gesungen.

Ein künstlich erweitertes Gewässer mit angrenzenden Parks, Zeltplätzen, Hotels und Restaurants wurde in weniger als einem Jahr aus dem Boden gestampft. Nun gut, alles ist nicht fertig geworden. Da donnerte schon noch ab und zu eine Planierraupe an den Zuschauern vorbei, an der Tibüne fehlen noch einige Geländer. Trotzdem: „Hier entstand die schönste Regattastrecke der Welt“, behauptet DDR-Verbandstrainer Rüdiger Helm, der nun wirklich alle Kanäle dieser Welt kennt.

Auf solch ein Lob ist man hier stolz. Dem Chefarchitekten des durchgestylten Geländes widmete das polnische Fernsehen eine ganze Stunde im Abendprogramm. Und dieser ganze Rummel für eine Regattastrecke, auf der man nur rudern und paddeln kann? Der Verdacht will jedenfalls nicht schwinden, daß hier mächtig über die Verhältnisse geplant und gebaut wurde. Künftige Veranstaltungen auf dem hochmodernen Rennkurs? Wer weiß? Alter Sozialismus, dabei hast du es doch wieder so gut gemeint.

Die Bürger von Poznan haben's erstmal auch gedankt und liefen zu Tausenden herbei, um die Wettbewerbe der 23. Weltmeisterschaft im Kanurennsport zu beobachten. Der Metropolit von Poznan begrüßte die Gäste aus der Wojewodschaft und dem Rest der Welt herzlich im Programmheft. „Vor zwölf Jahren habe ich selbst einen feinen Paddelurlaub in Nordpolen verlebt“, beteuerte der Geistliche seine Kompetenz in dieser Sportart.

Sollte sich Hochwürden wirklich einmal an die Regattastrecke verirrt haben, er würde wohl das große Staunen bekommen: Die ehemals so kerzengeraden Paddel sind inzwischen propellerförmig verbogen. Die Boote sind aus edelstem Edelholz, Honduras-Mahagoni etwa, das bei sieben Atü und großer Hitze formstabil gepreßt wird. Der neueste Schrei jedoch ist Kunststoff. Ein teurer Spaß. In Poznan jedenfalls kamen mit Kunststoff-Flitzern nur die USA, die BRD und die DDR zum Zuge.

Ach ja, die beiden deutschen Verbände. Es werden bald keine DDR-Hymnen mehr gespielt. Durch den Kanurennsport erfährt die Welt, welches Durcheinander diese Vereinigung eigentlich ist. Katrin Borchert (21) wurde 1989 dreimal Weltmeisterin für die DDR. Dannn packte sie mit Monika Bunke (zwei WM -Titel) und Trainer Neumann ihre Sachen und zog von Neubrandenburg nach Essen. „Ich wollte einfach sportlich weiterkommen“, beteuert das große Talent. Nun stand sie in Poznan für die Bundesrepublik auf dem Treppchen. Als dreimalige Dritte auf den 500-Meter-Strecken.

„Das hätte sie sich sparen können. Bei uns war sie besser“, kontert ihre ehemalige DDR-Mannschaftskameradin Ramona Portwich das Gerede von der sportlichen Profilierung. Sie wurde zwar im Einer-Rennen Vierte hinter Katrin Borchert, sorgte aber durch Siege im Zweier- (mit Anke von Seck/Rostock) und Vierer-Kajak dafür, daß die Neubundesbürgerin noch einmal ihre alte Heimathymne hörte. Und im nächsten Jahr sitzen dann alle wieder in einem Boot die DDR-Kanufahrerinnen werden dann wiedervereinigt.

Die drei Bronzemedaillen der DDR-Importe Borchert und Bull plus Vierer-Ergänzung durch Fischer (Wolfsburg) und Bednar (Mannheim) blieben die einzigen Plaketten für den bundesdeutschen Kanuverband auf den olympischen Distanzen. Das tat weh. Besonders schmerzte jedoch der Fall Josefa Idem. Die 25jährige, das Aushängeschild der BRD-Rennkanuten schlechthin, wurde Weltmeisterin im Einer. Für Italien. Seit zwei Jahren in Ravenna lebend, drehte sie nun den Deutschen den Rücken zu, ließ sich einbürgern und spurtete forza für Italia.

Und bei den Männern explodieren die Zeiten. Folge des neuen Materials? „Nein, das ist wohl mehr der politischen Gesamtlage geschuldet“, sagt Rüdiger Helm. Im Klartext: Eine ganze Reihe ungarischer und polnischer Trainer ziehen in die westliche Welt und bauen dort mit ihren erfolgreichen Konzepten neue Kanuzentren auf. Und was soll erst werden, wenn die nun „überflüssigen“ DDR-Trainer dazukommen?

Für die DDR-Sportler ging es in Poznan nicht nur um Medaillen, die hier erreichten Plazierungen sind ausschlaggebend für die Einteilung der Kaderkreise und damit verbundene Mittel der Sportförderung ab 1. Januar 1990. Die Diskriminierung der Ostdeutschen setzte schon vor der eigentlichen Vereinigung der beiden Kanuverbände ein: Angesichts der großen Zahl von Anwärtern auf Unterstützung durch die Sporthilfe wurde zuerst einmal eine zahlenmäßige Barriere aufgebaut.

Beispiel Thomas Zereske. Der 24jährige Sportstundet aus Neubrandenburg wurde im Einer-Canadier Vizeweltmeister über 500 Meter und Dritter auf der doppelten Distanz. Er hat sich gut erkundigt: „Normalerweise bekommt man für einen dritten Platz bei Weltmeisterschaften in olympischen Sportarten den höchsten Satz der Förderung. Bei uns wird das nicht reichen. Wir sind zu viele.“ Fraglich ist auch, wie die DDR-Sportler die Zeit bis zum 1. Januar des neuen Jahres überbrücken sollen.

Sie kommen jetzt nach Hause in ihre Klubs, von denen sie nicht wissen, ob sie noch existieren. In Zereskes Klub in Neubrandenburg erhielten die Leichtathleten einen Vertrag der Sportartikelfirma Nike. „Wenn die uns Kanuten nicht unter die Arme greifen, ist sowieso alles vorbei“, sagt die Neuentdeckung im Canadier-Bereich. Thomas Zereske würde sich gerne um einen Beruf kümmern, Rundfunkjournalist möchte er werden. „Ab und zu biete ich dem Sender in Neubrandenburg schon Sportbeiträge an. Aber der Sender wird wohl eingehen, und leben kann ich davon sowieso nicht.“

Noch schlimmer trifft es die Trainer. Rüdiger Helm hofft auf eine der vier angebotenen Stellen im bundesdeutschen Kanuverband. „Drei Disziplintrainer und einen Diagnosetrainer, der den Trainingsprozeß wissenschaftlich begleitet, werden sie enventuell übernehmen. Mehr nicht.“ Es ist schon komisch: Rüdiger Helm hat nach den Olympischen Spielen in Seoul neue Trainingskonzepte durchgesetzt und damit elf Weltmeistertitel gewonnen - aber er bangt um seine Zukunft. Nach Medaillen gerechnet entschied die DDR das letzte deutsch-deutsche Duell auf den olympischen Distanzen mit 10:3 für sich. Was hilft's?

Von den 35 vergebenen Medaillen über 500 und 1.000 Meter gingen 25 nach Osteuropa. Auch wenn die Länder nicht mehr alle sozialistische sind. Gewonnen haben wieder einmal ihre sozialistischen Sportsysteme. Ein letztes Mal vielleicht.

Ergebnisse vom Sonntag:

Frauen, 5 000 Meter, Kajak-Einer: 1. Katrin Borchert (Essen) 22:34,17 Min., 2. Josefa Idem (Italien) 22:35,23, 3. Irina Salomykowa (UdSSR) 22:39,04, 4. Katalin Gyulay (Ungarn) 22:54,40, 5. Inge Coeck (Belgien) 22:58,59, 6. Marina Bituleanu (Rumänien) 23:08,47; Kajak-Zweier: 1. Anke von Seck/Ramona Portwich (DDR) 20:46,63, 2. Eva Donusz/Erika Meszaros (Ungarn) 20:47,16, 3. Nali Korbukowa/Katerina Konijowskaja (UdSSR) 20:51,71, 4. Monika Bunke/Andrea Martin (Essen/Schierstein) 21:01,41

Ergebnisse vom Samstag:

Herren, 500 m, Kajak-Einer: 1. Sergej Kalesnik (UdSSR) 1:43,58 Minuten, 2. Mike Herbert (USA) 1:43,93, 3. Martin Hunter (Australien) 1:44,52; Kajak-Zweier: 1. Kalesnik/Tistschenko (UdSSR) 1:33,82, 2. Herbert/Kent (USA) 1:34,98, 3. Bluhm/Gutsche (DDR) 1:35,05; Kajak-Vierer: 1. UdSSR 1:25,20, 2. DDR 1:26,40, 3. Ungarn 1:27,05, 4. Frank Guse/Oliver Kegel/Detlef Hofmann/Mario von Appen (RG Berlin/WSV Mannheim-Sandhofen/KG Essen) 1:27,11; Canadier -Einer: 1. Michail Sliwinski (UdSSR) 1:55,95, 2. Thomas Zereske (DDR) 1:56,14, 3. Nikolai Bachwalow (Bulgarien) 1:57,01; Canadier-Zweier: 1. Renejski/Tschurawski (UdSSR) 1:46,01, 2. Papke/Spelly (DDR) 1:47,44, 3. Zala/Palisz (Ungarn) 1:48,26; Canadier-Vierer: 1. UdSSR (Renejski/Tschurawski/Gurin/Weschko) 1:37,00, 2. Ungarn 1:38,51, 3. Bulgarien 1:38,68, 4. DDR (Heukrodt/Montag/ Röder/Berndt) 1:38,75; Frauen, Kajak-Einer: 1. Josefa Idem (Italien) 1:57,58, 2. Yvonne Knudsen (Dänemark) 1:57,78, 3. Katrin Borchert (KG Essen) 1:57,96, Kajak -Zweier: 1. von Seck/Portwich (DDR) 1:46,92, 2. Donusz/Maszaros (Ungarn) 1:48,45, 3. Borchert/Bunke (KG Essen) 1:49,34.