piwik no script img

Arbeitsmarkt - Rechnung mit vielen Unbekannten

■ Interview mit Ost-Berlins Stadtrat für Arbeit und Betriebe, Kurt Blankenhagel (SPD) / Die Arbeitsämter meldeten im Juli 28.790 Arbeitslose

taz: Über Ost-Berlin bricht zum erstenmal seit Jahrzehnten das Problem Arbeitslosigkeit herein. Wissen Sie überhaupt, wieviel Arbeitslose es zur Zeit im Osten der Stadt gibt?

Kurt Blankenhagel: Die Zahlen, die wir für Juli von den Arbeitsämtern bekommen haben, weisen 28.790 Arbeitslose aus. Aber wieviel Arbeitslose es tatsächlich gibt, ist etwas schwieriger zu sagen, weil die Kurzarbeiter, die es in größerem Umfang gibt, potentielle Arbeitslose sein könnten. 11.589 Kurzarbeiter waren im Juli in Ost-Berlin gemeldet. Insofern muß man sagen, daß es vielleicht keiner so genau weiß.

Im Mai prognostizierte das Ostberliner Arbeitsamt 30.000 Arbeitslose bis Jahresende. Würden Sie sich eine neue Prognose zutrauen?

Ich möchte da keine Prognose abgeben. Ich müßte wirklich raten, und damit würde bloß Angst geschürt.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung prophezeit für den Raum Berlin bis Jahresende 300.000 Arbeitslose. Das hieße für Ost-Berlin 220.000 Arbeitslose. Wäre das realistisch?

Ich kann das nicht bestätigen. Aber das DIW ist eine seriöse Einrichtung, die Zahl wird wohl kaum aus der Luft gegriffen sein.

Welche Branchen sind in Ost-Berlin für steigende Arbeitslosigkeit besonders anfällig?

Der Maschinenbau ist sehr problematisch, genauso die Elektrotechnik und die Elektronik. Unter den 11.000 Kurzarbeitern sind 3.952 aus dem Bereich Elektrotechnik, einem Bereich, der in der Bundesrepublik und in West-Berlin zu den augenblicklich blühenden gehört. Diese Branchen hatten in den zurückliegenden Jahren nicht den Anschluß an den Weltstandard und versuchen jetzt, ihn zu finden. Aber das wird sehr schwierig werden. Zwar finden in Westdeutschland und West-Berlin Produktionsausweitungen statt, die Arbeitslosigkeit geht zurück, aber leider nicht in der DDR.

Viele Ostberliner, die noch in den zentralen DDR-Behörden arbeiten, werden nicht in die bundesdeutschen Verwaltungen übernommen werden. Da rollt doch eine große Entlassungswelle auf die Stadt zu.

Das stimmt. Aber wir als Stadtregierung, und besonders der Senat, machen Front dagegen, daß das Land, in dem sich eine Behörde befindet, mit der Auflösung befaßt sein soll. Das ist keine Haltung, die rechtens ist. Berlin, Standort nahezu aller großen gesellschaftlichen Organisationen und der Ministerien, ist damit überfordert. Wir akzeptieren nicht, daß hier nach dem Territorialprinzip verfahren wird, und wir werden dagegen Einspruch erheben.

Auch der Magistrat wird wohl nicht alle Beschäftigten hinüberretten wollen in eine Gesamtberliner Stadtverwaltung. Wieviel neue Arbeitslose wird er denn schaffen?

Der Magistrat möchte natürlich alle mit 'rüberretten. Beim Bereich Inneres gibt es entsprechende Überlegungen. Aber welche Möglichkeiten dazu bestehen, das ist die andere Seite. Und bei allem Bemühen, die Gesamtberliner Verwaltung sozialverträglich zustandezubringen, wird es sicherlich ohne Probleme nicht abgehen.

Zumindest die DDR-Bürger mit Wohnsitz in Ost-Berlin und Umgebung haben ja die Möglichkeit, in West-Berlin zu arbeiten. Welchen Umfang hat das bisher angenommen?

Die letzte Zahl, die ich da gehört habe, ohne daß sie verbindlich sein muß, sind wohl 50.000.

Wie sieht es umgekehrt aus?

Da kann ich keine Zahl nennen. Ich glaube auch nicht, daß die so signifikant ist.

Was tut denn der Magistrat, um die Arbeitslosigkeit wenigstens aufzufangen?

Wir hatten über einige Monate größere Probleme, Fortbildungs- und Umschulungsangebote zu machen, weil die entsprechenden Bildungsträger nicht in größerem Umfang vorhanden waren. Inzwischen haben unsere Beratungen mit den 30 bis 40 Bildungsträgern zum Teil schon Früchte getragen. Wir haben in unserem Geschäftsbereich ein arbeitsmarktentlastendes Sonderprogramm erarbeitet, speziell aus Ostberliner Sicht, das hoffentlich in der nächsten Zeit in den Magistrat eingebracht werden kann.

Was beinhaltet dieses Programm?

Augenblicklich konzentrieren Magistrat und Senat ihre gemeinsamen Bemühungen auf zwei Ziele, Berufsbildungskooperation und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Durch Berufsbildungskooperation zwischen West- und Ostberliner Trägern wollen wir leistungsfähige Umschulungsstrukturen schaffen. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Lehrgängen mit insgesamt 905 Fortbildungs- und Umschulungsplätzen.

Können Sie Beispiele nennen?

Das Institut für Technische Weiterbildung, das mit der Betriebsschule „Julius Balkow“ kooperiert, hat seit dem 15. August mit einem Lehrgang „Wirtschaftsfachkraft“ für 20 Teilnehmer begonnen. Ein Lehrgang für 30 Teilnehmer im Bereich „Steuerfachgehilfe“ beginnt am 3. September in Kooperation zwischen der Westberliner Gesellschaft für Steuerberufe und der genannten Betriebsschule.

Was bezwecken Sie mit der Berufsbildungskooperation?

Wir wollen erreichen, daß erstens Know-how in diese Berufe transportiert wird, daß zweitens eine Multiplikatorenwirkung entsteht - indem bei solchen Lehrgängen erfragt werden kann, wie so eine Ausbildung organisiert ist. Drittens, daß Ausbilder bestehender Einrichtungen anpassungsfortgebildet werden und selbstständig weitermachen können, wodurch schließlich Arbeitsplätze in den bestehenden Bildungseinrichtungen erhalten werden sollen.

Wie werden all diese Angebote angenommen? Aus dem Arbeitsamt war zu hören, daß nur die Hälfte der Klienten überhaupt zur Umschulung bereit sei.

Das hat sich inzwischen positiv verändert. Circa 80 Prozent der Arbeitslosen sind zu Umschulungen bereit, habe ich kürzlich gelesen. Das wäre zu überprüfen, richtige Statistiken über den jüngsten Stand gibt es nicht.

Das arbeitsmarktentlastende Sonderprogramm wird Geld kosten. Wieviel?

In diesem Jahr haben wir dafür 12,1 Millionen Mark.

Die 24 Millionen, die Sie ursprünglich wollten, bekommen Sie also nicht?

Alle Magistratsbereiche mußten abspecken, und mit großem Einsatz ist es gelungen, die 12 Millionen zu bekommen. Aber wir kommen durchaus hin damit. Immerhin werden nach dem noch gültigen Arbeitsförderungsgesetz der DDR alle Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im magistratseigenen Bereich ausschließlich zentral gefördert.

Wie weit sind sie denn mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der Stadt bisher gekommen?

Wir wollen insgesamt 10.000 ABM-Plätze schaffen. Jetzt kommt es darauf an, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bei freien Trägern einzurichten. Für die Abwicklung bekommen wir 75 Arbeitskräfte, die zur Zeit in der Westberliner Senatsverwaltung dafür vorbereitet werden. Eine erste ABM -Sanierungsmaßnahme haben wir unter Dach und Fach. Das Sozialpädagogische Institut beginnt zusammen mit der Ostberliner Arbeiterwohlfahrt am 1. September in der Schönhauser Allee. 20 Leute werden derzeit eingestellt.

Ist das alles nicht ein Tropfen auf dem heißen Stein?

Nein. Wir können ja durchaus schon Umschulungen in Bereichen veranlassen, in denen Dauerarbeitsplätze finanziell noch nicht abgesichert sind. Mit Sozialstationen, häuslicher Krankenpflege und ähnlichem wird auch im hiesigen Teil der Stadt ein Beschäftigungsmarkt entstehen, der sich irgendwann selbst trägt. Aber natürlich ist der Einfluß des Magistrates auf den Arbeitsmarkt begrenzt. Er bietet Qualifizierungen an, ABM als flankierende Maßnahmen, aber jetzt müssen Investoren kommen, die diese qualifizierten Leute auf entsprechende Plätze setzen.

Wie lange noch können Sie in den Eigenbetrieben der Stadt die Löhne zahlen?

Da sehe ich im Moment kein Problem?

Auch nicht, wenn die Tarife erhöht würden, wie derzeit gefordert wird, um 30 Prozent?

Dann müssen wir sicher darüber nachdenken, wie wir das bezahlen.

Womöglich müßten Sie selbst Kurzarbeit anordnen?

Nein, das werden wir nicht tun, denn die Betriebe müssen ja die Versorgung und Entsorgung der Stadt gewährleisten. Sonst haben wir wie vor kurzem die Papier- und Müllberge.

Rationalisieren könnte man bei der BVB und der Stadtwirtschaft nicht?

So kann man da nicht rangehen. Das Leistungsangebot beispielsweise der Stadtwirtschaft muß vergrößert werden, etwa bis auf das Niveau der Westberliner Stadtreinigung. Da muß man sogar mit zusätzlichen Arbeitsplätzen rechnen. Sicher wird der ganze Bereich der Verwaltungen in den Eigenbetrieben ein kritischer Punkt sein. Wir werden uns bemühen, den dort Beschäftigten andere Arbeitsplätze anzubieten.

Sie nennen sich Stadtrat für Arbeit und Betriebe. Welche Betriebe gehören zu Ihrem Ressort und welche noch nicht?

Die Stadtwirtschaft, die Berliner Verkehrsbetriebe und der Binnenhafen sind Eigenbetriebe Ost-Berlins. Hinzu kommt noch die Wasserversorgung und Abwasserbehandlung, die wir allerdings noch nicht haben. Sie ist eine Kapitalgesellschaft in Gründung und wir gehen davon aus, daß innerhalb der nächsten Tage der Eigenbetrieb formell etabliert wird. Den Schlachthof und das Kühlhaus hat die Stadtverordnetenversammlung als Eigenbetriebe reklamiert. Hier sind wir im Einvernehmen mit der Treuhand, müssen allerdings den Einspruch des Kühlbetriebes klären. Auch auf die Stadtgüter erheben wir Anspruch. Die größten Probleme haben wir mit der Gasversorgung und mit Sero.

Welcher Art?

Wir wollen Sero übernehmen, die Treuhand hat zunächst nein gesagt, und wir legen Einspruch dagegen ein. Daneben erarbeitet die Treuhand ein Konzept für die Sero Holding der DDR, auf dessen Grundlage dann entschieden werden soll. Die Gasversorgung ist bereits als Aktiengesellschaft im Handelsregister eingetragen. Wir wollen sie in einen Eigenbetrieb umwandeln. Aber die Treuhand entscheidet erst darüber, wenn zum Kommunalvermögensgesetz die zweite Durchführungsbestimmung rechtsgültig ist. Und die besagt, daß die Entscheidung, ob ein Betrieb sinnvoller als Betrieb der Stadt oder als Privatbetrieb geführt wird, bei der Treuhand liegt.

Interview: Susanne Steffen, Hans-Martin Tillack

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen