Die bundesdeutsche Stimmvieh-Seuche

■ Ist Wahlboykott am 2. Dezember Erste Bundes-Bürgerpflicht?

VON MATHIAS BRÖCKERS

Wer in diesen Tagen bürgerliche Pflichten und Rechte abwiegt, wer sieht, wie Verfassung und Gesetze nach politischer Tageslaune zur Änderung und Disposition anstehen, wie mit Wahlterminen - immerhin dem heiligsten Akt parlamentarischer Demokratie - hantiert wird, als handele es sich um einen Skatabend, und wie insgesamt die drängende Lösung der seit dem 9. November anstehenden Fragen dem rasenden Wahlkampf-Terror der Parteien zum Opfer fällt - der kann als Bundesbürger durchaus zu dem Schluß kommen, daß die Teilnahme an dieser Wahl eine Schande ist. Und eine Dummheit dazu, bedeutet doch jedes Kreuzchen auf dem Wahlzettel Zustimmung für die Art und Weise, wie die Regierung mit ihrem Souverän - dem Volk der Bundesrepublik - umspringt. Daß Wahlen ein Schönheitswettbewerb sind, für den die Kandidaten alle vier Jahre in den Kosmetikkoffer „Wahlgeschenke“ greifen, daß Luftballons und Propagandalügen die Forsetzung der Politik(er-Karrieren) mit üblichen Mitteln darstellen, daß der Horizont der Politik auch bei „Jahrhundertentscheidungen“ von vierjährigen Wahlperioden blockiert ist, daß die Parteien, die nach Artikel 21 an der politischen Willensbildung „mitwirken“ sollen, dieses Feld in selbstherrlicher Manier alleine übernommen haben und dort nur im Hinblick auf ihr eigenes Wohl und Wehe agieren keine bundesdeutsche Regierung hat diese Vorbehalte deutlicher unterstrichen als die derzeit amtierende. Wozu wurde die Regierung Kohl 1986 gewählt? Sie wurde gewählt, um Unternehemensgewinne zu sichern, soziale Spannungen abzufedern und das (auf den Ruin der Natur zusteuernde) Wachstumsschiff auf Kurs zu halten, kurz: um für vier weitere Jahre die üblichen Geschäfte zu führen. Kein Mensch aber, geschweige denn eine Mehrheit, hat diese Regierung, oder gar Helmut Kohl persönlich, beauftragt „Deutschland zu machen“. Kohl wurde als Kassenwart gewählt, niemand dachte 1986 auch nur im Traum daran, daß die Mauer fallen und eine völlig veränderte politische Lage heraufbeschwören könnte und damit Entscheidungen, die den Horizont des nächsten Wahltermins weit übersteigen. Doch unerwartet weht ein Windstoß der Geschichte dem Kassenwart den Ball zu: Kohl, der eigentlich nur die Vereinskasse führen sollte, steht plötzlich als historischer Spielführer da. Was tut er? Statt den Ball zu halten, die völlig veränderten Konstellationen und Spielregeln zu sondieren, stürmt er blind drauflos - den Blick einzig auf den Nacken der Opposition gerichtet. Und der fällt, beim Versuch ihm den Ball abzujagen, nichts besseres ein als der Jammer, Kohl betreibe das Spiel als seine „Privatsache“ - daß das Spiel unterbrochen werden muß, will auch ihr nicht in den Sinn, sie will nur an den Ball kommen, um beim Powerplay im Schlußwahlkampf ein paar Treffer herauszuholen - und sei es mit einer Asyl-Schwalbe von Oskar. Was uns derzeit an politischem Theater geboten wird, ist wie ein Fußballspiel, in dessen Verlauf ein FIFA -Zufall plötzlich die Regeln radikal ändert und die Spieler weiterrennen, als gelte es nach wie vor, in 90 Minuten möglichst viele Tore zu schießen. Nun mag man das Profi -Kickern nicht verdenken, sie können nichts anderes, kennen nur diese Regeln, und wollen im Geschäft bleiben. Daß aber die Zuschauer - der zahlende Souverän - mit keinem Sterbenswörtchen gefragt werden, ob sie dieses Spiel überhaupt noch sehen wollen ist ein Skandal - schließlich handelt es sich nicht um ein Match auf dem Oggersheimer Bolzplatz, sondern um die politische Ordnung Mitteleuropas.

Bis heute wurden die Wählerinnen und Wähler der Bundesrepublik mit keinem Wort gefragt, ob und vor allem, wie sie die deutsche Vereinigung - das Tor, auf das Kohl zustürmt - überhaupt sehen wollen. Daß es der „tiefe Wunsch des deutschen Volkes“ ist, mag abzüglich Pathos vielleicht sogar stimmen, genau so sicher aber ist, daß es Wünsche gibt, deren Untiefen jede Erfüllung zu einem schwierigen und langwierigen Projekt machen. Zu einem Unterfangen, das nicht mit heißer Wahlkampfluft von Pseudo-Kontrahenten, sondern nur in konzertierter Aktion der kühlsten Köpfe zu bewerkstelligen ist. Dazu freilich hätte es, schon im vergangenen Dezember, eines Moratoriums bedurft, einer Bedenkzeit, eines Ausstiegs aus dem Spektakel, mit dem die Parlamentarierer periodisch um die Größe ihrer Fleischtöpfe feilschen, einer Phase, in der die Parteien-Monarchie für eine Weile gestoppt und die politische Willensbildung auf breiteste demokratische Basis gestellt worden wäre: als öffentlicher Diskurs von allen TV-Programmen bis in jedes Dorfgemeinschaftshaus mit anschließender Volksabstimmung aller fundamentalen Fragen. Erst dann hätte der normale Bonner Spielplan wieder aufgenommen werden dürfen. So aber erwiesen sich die „Helmut, Helmut„-Rufe aus der Dresdner Ecke als fatal - sie galten dem Repräsentanten der BRD, den der Kanzler wieder mal mit Helmut Kohl verwechselte. Statt zurückzutreten, fühlte er sich, ganz wie der kleine Moritz, persönlich angesprochen, auch wenn die DDR-Bevölkerung jeden x-beliebigen D-Mark-Kanzler mit Vornamen umjubelt hätte seitdem stürmt er im Alleingang und bezichtigt jeden, der nicht mitrennt, des Stehlens aus der Verantwortung. Daß ihn niemand beauftragt hat, die Verantwortung im Alleingang zu tragen, daß auch die anderen Parteien nicht gewählt wurden, um in diesem historischen Fall hysterische Entscheidungen zu treffen, sondern ihre geliehene Macht gefälligst an den Besitzer zurückzugeben haben, - diese demokratische Selbstverständlichkeit scheint den professionellen Bonner Verantwortungsträgern genauso abhanden gekommen wie mittlerweile jeder Hauch von Durchblick. Was zum Beispiel ist von Kohls großartigem Zehn-Punkte-Plan geblieben? Makulatur, Konfusion, Chaos und eine Geschaftlhuberei, deren Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist. Dieses groteske Theater nun sollen die Wahlberechtigten am 2. Dezember mit einem Kreuzchen im nachhinein billigen und auf den Rang eines seriösen Staatsakts heben - dümmere Kälber hat es im bundesdeutschen Metzgereiwesen wohl noch nie gegeben. IST WAHLBOYKOTT AM 2. DEZEMBER ERSTE BUNDES-BÜRGERPFLICHT?