Aufregung, Attacken und Aussöhnung

■ Tumult bei der gestrigen Stadtverordnetenversammlung nach OB Schwierzinas Regierungserklärung / CDU-Fraktion empört über Kritik an Bundesregierung / Die Koalition platzte nicht, im Gegenteil / CDU- und SPD-Fraktionen demonstrierten Einigkeit

Ost-Berlin. Eine Viertelstunde nach Ende der Pause saßen die CDU-Abgeordneten immer noch nicht auf ihren Plätzen. Kleine Grüppchen diskutierten erregt, hie und da tuschelte man über die „womöglich geplatzte Koalition“. Anlaß des gestrigen Tumults im Roten Rathaus war die Regierungserklärung des Ostberliner Oberbürgermeisters Schwierzina vor den Stadtverordneten.

Eine Überraschung war diese tatsächlich. Mompers Amtskollege hatte nicht nur unerwartet eigenständig die schwierige Lage seiner Stadt charakterisiert. Er verknüpfte darüber hinaus die Klage - „den Ostdeutschen wird nicht gesagt, wie lang sich das Tal noch hinstreckt, das sie durchqueren sollen“ - mit Vorwürfen gegen die beiden deutschen Regierungen. Scharen von CDU-Abgeordneten quittierten dies mit dem Verlassen des Saales.

Schwierzina legte den Finger auf die Wunde: Den Kommunen seien „die Hände gebunden“, wie man am Ostberliner Haushalt ablesen könne, und das sei „kein Aushängeschild für eine politische Ordnung“, die ständig auf die Länder und Gemeinden als starke Wurzeln der Gesellschaft verweise. Schließlich gar: „Die Bundesregierung ist weit davon entfernt, das wahre Ausmaß der Wirtschaftskrise in unserer Region zu erkennen.“ Dennoch ließ er den optimistischen Schluß nicht fehlen - „nicht in Selbstmitleid verfallen“, „beherzt mit anpacken“, „Vertrauen in die eigene Kraft“.

Der OB beschwor „Werte von Bestand“, wie das Sekundärrohstofferfassungssystem und die Ganztagsschulen, erklärte die „liberalere Wehrpflichtgesetzgebung der DDR“ für übernehmenswert, wohingegen er für die Übernahme des bundesdeutschen Steuersystems Handlungsunfähigkeit der Kommunen prophezeite. Er forderte die Ausdehnung der Berlinhilfe auf ganz Berlin und überhaupt „Solidarität im Westen“, „Hilfe zur Selbsthilfe“. Konkret auf Ost-Berlin bezogen, beschränkte er sich allerdings auf Willenserklärungen: Es müsse Mietpreisbindung geben, ein Wohnungsneubauprogramm müsse aufgelegt werden, die städtische Mitte könne neu gestaltet werden.

Die fehlenden Konzepte wurden dann auch in der Diskussion von mehreren Abgeordneten moniert. Die SVV-Präsidentin hatte resolut das Machtwort gesprochen, nachdem die CDU- und die SPD-Fraktion volle zehn Minuten lang mit allen unmöglichen Tricks versucht hatten, ihren gemeinsamen Antrag Verschiebung der Diskussion auf die nächste Versammlung durchzubringen. Vor allem was die Rede eigentlich darstelle

-ob Wahlkampf oder nicht - beschäftigte die Abgeordneten. Aus der Rede spreche „die Position der West-SPD“, meinte Bärbel Bohley vom Bündnis 90/Grüne/UFV. „Oppositionsinhalte“ schrieb ihr Adolphi von der PDS-Fraktion zu. „Die Eröffnung des Wahlkampfes“, erklärte ein Abgeordneter der Liberalen/DSU, wobei er mit dem Adjektiv „populistisch“ sicher nicht unrecht hatte. „Eine Wahlkampfrede übelster Art“, schoß CDU-Fraktionsführer Jacob - seit 16 Jahren schon Stadtverordneter seiner Partei im Roten Rathaus - aus vollen Rohren. Was ihn nicht daran hinderte, eine kaum minder üble Wahlkampfattacke gegen die PDS zu reiten. Darin reichte ihm SPD-Fraktionsführer Herbst die Hand, nachdem er den Lorbeerkranz auf das lächelnde Haupt des OB gedrückt hatte: Auf diese Rede hätten „die Berliner und Berlinerinnen lange gewartet“.

Und, während im Saal nur noch die Hälfte der Abgeordneten ihre Aufmerksamkeit der „Mietenentwicklung in Ost-Berlin“ widmete, zeigten sich Herbst und Jacob draußen vor den Journalisten in neuer Einigkeit, nah beieinander. Jacob erklärte: „Die Koalition sehe ich im Moment nicht gefährdet.“

Susanne Steffen