Unerotischer Plastikschwanz

■ Roland Topors und Henri Xhonneux‘ Puppenspiel für Erwachsene „Marquis de Sade“

Der riesige Penis aus Plastilin ist nicht gerade erotisch, auch nicht obszön oder gar abstoßend. Er wirkt eher niedlich mit dem Puppenköpfchen am Ende, das mit den Augen rollt und mit lasziver Kinderstimme kluge Dinge sagt. Es ist der Schwanz des Marquis de Sade, mit dem der Dichter im Kerker innige Zwiesprache hält.

Wir schreiben das Jahr 1789. In den Pariser Clubs wird heimlich über die Revolution diskutiert. Aber noch regiert hier wie im übrigen Europa die verlogene katholische Moral. Aufgrund einer Denunziation wird der Marquis, ein aristokratischer Schriftsteller mit Hang zu freizügiger Erotik, in der Bastille eingesperrt. Doch seine schöpferische Phantasie ist nicht zu bremsen. Er schreibt und schreibt. Als ihm Papier und Tinte fehlen, taucht er die Feder sogar in seine Wunden, um mit Blut die letzten Fetzen seines Hemds zu beschreiben. Die entstandenen Werke, denen später neue Moralapostel verächtlich das Prädikat „sado -masochistisch“ verleihen werden, sind in Wahrheit de Sades literarische Verarbeitung des brutalen, sinnesfeindlichen Aufenthalts im Kerker. Justines erotische Folterqualen, die der Marquis in der Gefangenschaft erfand, bewahrten ihn davor, selbst so zu verrohen wie die rattenköpfigen Wächter, die skrupellosen Mitgefangenen und perversen Geistlichen um ihn herum.

So jedenfalls interpretieren die Autoren Roland Topor und Henri Xhonneux in ihrem Film die Geschichte des Marquis de Sade. Am Vorabend der Französischen Revolution verkörpert der Marquis den einzig wahren revolutionären Geist, während die Mächtigen ebenso wie „die patriotischen Bürger vom linken Ufer“ allesamt nur feige Schwätzer sind. Doch dem Regieduo lag es fern, eine trockene Lektion in französischer Geschichte zu erteilen oder einen zu unrecht verschmähten Schriftsteller zu rehabilitieren. Topor, der seit den sechziger Jahren über vierzig Bücher mit Romanen, Kurzgeschichten und Zeichnungen veröffentlicht hat und als Regisseur und Ausstatter an verschiedenen Theatern arbeitete - er schrieb unter anderem Roman und Drehbuch für Roman Polanskis Der Mieter - ist für seinen schwarzen Humor bekannt. Angeregt durch die gemeinsame Arbeit an einer Kinderserie mit beweglichen Figuren fürs französische Fernsehen („Telechat“) erfanden Topor und Xhonneux eine Puppengeschichte für Erwachsene, in der die Schauspieler Tiermasken tragen.

Marquis de Sade trägt einen Hundekopf. Sein Peiniger, der Kerkermeister Ambert, ist eine fiese Ratte, Justine, die Arme, die vom König geschwängert und daraufhin zu de Sade in die Zelle geworfen wurde, um ihm die Vaterschaft zuzuschreiben, hat das sanfte Gesicht eines Kalbes. In der Soutane des Gefängnisgeistlichen steckt ein Kamel und der Garnisonschef Gaetan de Preaubois, ein eitler Edelmann mit masochistischen Anwandlungen, die er von seiner pferdegesichtigen Maitresse Juliette befriedigen läßt, trägt Schnabel und Kamm wie ein Gockel. Für die tricktechnischen Leistungen zeichnen die Gebrüder Gastineau verantwortlich, wahre Genies auf dem Gebiet der beweglichen Knetkunst. Sie haben den Schauspielern schwere Eisenhelme übergestülpt, auf denen die nach Topors Entwürfen geformten Tierköpfe plaziert wurden. Während die komplizierte Mimik ferngesteuert funktioniert, mußten die Schauspieler nahezu blind agieren. Bei einzelen Figuren wirkt das durchaus überzeugend, beispielsweise bei dem hahnengesichtigen Gaetan, dessen ruckartiges Hühnergehabe sich in jeder Geste wiederfindet. Andere jedoch bleiben leblos, sobald der erste Eindruck von Kuriosität verflogen ist.

Warum diese Special effects? Hätten nicht ungewöhnliche Schauspieltypen a la Fellini die Sache überzeugender spielen können? Topor und Xhonneux begründen die verrückte Maskenidee mit dem Verfremdungseffekt. So könne man etwas erzählen, was man sonst nicht erzählen könne. Wer dabei allerdings auf eine besonders ausschweifende pornographische Bebilderungen de Sadescher Prosa hoffte, wird enttäuscht. Pornofilme findet Topor nämlich bedrückend. Erst durch Puppen oder durch einen Trickfilm werde es lustig, verrät er in einem Interview. Doch die tierischen Exzesse des Garnisonshahns mit seiner Stutenmaitresse sind so komisch nun wieder nicht und wenn de Sade, der Hund, dem lüsternen Gefängniswächter einen Hummer in den Rattenarsch schiebt, schaut die Kamera mehr vorbei als hin. Die Respektlosigkeit, mit der der Fritz the Cat-Erfinder menschliche Fortpflanzungstechniken karikierte und so die niederen Instinkte der Zuschauer mit dem Zeichenstift kitzelte, fehlt Topors Tiermenschen. Der de Sadesche Mummenschanz schwankt unentschlossen zwischen Klamauk, Groteske und anspruchsvoller Literaturanalyse. Vor allem aber bezeugt er den Spieltrieb der Autoren.

So auch die Idee mit dem kommunizierenden Schwanz. Während de Sade im Kerker schmachtend seine erotischen Phantasien zu Papier bringt, quatscht ihm immer wieder Colin, der puppengesichtige Penis dazwischen: „Du bist ein Utopist.“ „Du armer beinloser Krüppel, hast ja nicht mal Füße.“ „Doch, ich habe. Dein ganzer Körper gehört mir.“ Das monströse Geschlechtsteil ist eigenwillig. Mal will er raus, während sein „Herr“ ohne vollständige Rehabilitierung lieber eingesperrt bleiben möchte, mal verweigert er den Dienst, wenn der Marquis zur (sexuellen) Tat schreitet. Der uralte Konflikt zwischen Verstand und Geschlechtstrieb, unter dem vorzugsweise Männer leiden, ist so originell zwar nicht. (Identitätsstiftende Szene-Comics mit dem Lümmel als Hauptdarsteller kursieren schon seit längerem in den durch Feminismusdebatten desorientierten Männergruppen.) Nur im Kino gab's das bislang nicht.

Ute Thon

Marquis - der Film, von Roland Topor und Henri Xhonneux, Frankreich/Belgien, 83 Minuten.