Der Blinddarm der Sowjetunion

■ Stereotypen bestimmen das sowjetische Bild über die moslemischen Nationalitäten / Moslems sind die unterste Kaste in der Armee / Repressalien gegen gläubige Moslems in Teilgebieten der Union

Von Gassan Gussejnow

Die UdSSR ist das fünftgrößte islamische Land der Welt wenn man allein ihre etwa fünfzig Millionen Einwohner zählt, die dem entsprechenden Kulturkreis angehören. Zieht man dann noch in Betracht, daß ein sehr viel größerer Prozentsatz der islamischen Bevölkerung aktiv ihre Religion ausübt als in den traditionell christlichen Gebieten dieses Staates, dann kann man den „mohammedanischen Einfluß“ auf das Schicksal der UdSSR gar nicht hoch genug einschätzen.

Als Religion, ebenso wie als System der gesellschaftlichen Selbstregulierung im traditionellen Sinne, wurde der Islam in der Sowjetunion in den 20er und 30er Jahren zutiefst erschüttert. Die Einführung der kyrillischen anstatt der bisher üblichen arabischen oder - gebietsweise - auch lateinischen Schrift ging Hand in Hand mit der Vernichtung ebenso der religiösen wie auch der weltlichen Literatur.

Überhaupt wurde damals der Islam zu einer der unterdrücktesten Religionen im ganzen Lande: die Hatz auf religiöse Führer, die Zerstörung der meisten Moscheen und die raffinierte Verfolgung von religiösen Reformatoren als „bourgeoise Nationalisten und Panislamisten“ trugen dazu bei. Die antiislamische Politik der stalinschen Führung kulminierte 1944 in der Deportation ganzer mohammedanischer Völker.

Als sich die ökologische und wirtschaftliche Krise im Transkaukasus, in Mittelasien und Kasachstan zuspitzte, war es ganz leicht, „traditionelle“ und „sowjetische“ Werte gegeneinander auszuspielen. Die größte Kindersterblichkeit und die höchste Arbeitslosigkeit im Staate, die tiefste Kluft zwischen Reich und Arm, das durch die Baumwollkulturen zerstörte System der Flurteilung - dies alles spiegelt sich im Bewußtsein des sowjetischen Durchschnittsmoslems wider: als planmäßiger Krieg des „Nordens“ gegen den „Süden“ und als Unterdrückung nationaler Traditionen, deren eine Variante der Kinderreichtum ist.

Konfrontiert war die Bevölkerung der nichtislamischen Regionen des Landes jahrzehntelang mit den Moslems aus Mittelasien und aus dem Transkaukasus nur als „Limitschiki“

-die sowjetische Variante der „Gastarbeiter“ - oder in der Gestalt von Marktfeilschern und somit Neureichen. Und schon war die Standardvorstellung vom „Asiaten“ geprägt: der entweder ein gerissener, gieriger Mafioso sein muß oder ein halbanalphabetischer Lumpenproletarier.

Reservearmee

für Sibirien

Die Innenpolitik verschiedener sowjetischer Regierungen nacheinander stützte sich in den östlichen Republiken auf eben diese Stereotypen. Sie schürten den regionalen Minderwertigkeitskomplex - daß sich dort der rohstoffhaltige Blinddarm der Restunion befände - und betrachteten die dortigen Arbeitskräfte als Reservearmee für Sibirien und den europäischen Teil des Landes. Der wesentliche Beitrag, den die „innere Militärpolitik“ der UdSSR bei den wachsenden Spannungen zwischen „Nord„-und „Südländern“ geleistet hat, wird zumeist unterschätzt. Die Armee ist so strukturiert, daß die Russen auf der Kommandoebene dominieren, während die des Russischen kaum kundigen Asiaten, Kaukasier usw. die unterste Kaste bilden. Wegen unzureichender Kenntnis dieser Sprache werden sie oft in die Baubataillone gesteckt, in Reih und Glied mit geistig Behinderten, ehemaligen Häftlingen unter Bewährungsfrist und anderen Soldaten, die aus den verschiedensten Gründen nicht für würdig erachtet werden, eine Waffe zu tragen.

Das Verhältnis zu den moslemischen Minderheiten in verschiedenen Teilen der UdSSR ist daher durchaus widersprüchlich. Da verspricht man den Krimtartaren ihre Rückkehr auf die Krim - bei völliger Religionsfreiheit, der Möglichkeit, dort Moscheen zu eröffnen usw.. Und andererseits werden die örtlichen Machthaber in einigen Teilen Georgiens zu einer repressiven Politik gegenüber den Moslems ermuntert: die Rückkehr der unter Stalin deportierten Meßcheten hierher wird nicht zugelassen. Und auch in der Adscharischen Autonomen Sowjetrepublik an der Grenze zwischen Georgien und der Türkei - der einzigen, die einst nicht unter nationalem, sondern unter religiösem Aspekt geschaffen worden war - gibt es Repressalien gegen gläubige Moslems.

Um ein positives Modell des Zusammenlebens von Moslems und Nichtmoslems bemüht man sich immerhin innerhalb der Russischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), und zwar in der Tartarischen Autonomen Sowjetrepublik und in gewisser Weise auch in der Stadt Moskau, wo eine starke Minderheit von über dreihunderttausend Tartaren lebt, darunter viele gläubige Moslems. Das Wissen um diese Modelle könnte zur Stabilisierung der Lage in jenen Teilen wenigstens des europäischen Rußland beitragen, in denen Moslems starke Minderheiten oder Randgruppen bilden.

In den Regionen der Sowjetunion mit vorwiegend islamischer Bevölkerung könnten höchstens noch eine grandiose Wirtschaftsreform und ein radikaler Wechsel der ideologischen Doktrin der Zentralregierung die Situation zum besseren wenden. Ein solcher Wandel wird allerdings weder durch die außenpolitische Krise im Nahen Osten noch durch die Stereotypen begünstigt, die sich in der Sowjetgesellschaft eingebürgert haben.

Übersetzung: Leonie Lessing

Der Autor Gassan Gussejnow ist zur Zeit als Humboldt -Stipendiat in Heidelberg