: Der Raum wird getötet, es bleibt die Zeit
■ In 25 Jahren soll ganz Europa mit Schnellbahntrassen verbunden sein / In der BRD geht es im nächsten Jahr los
Als Heinrich Heine 1843 der Eröffnung der Eisenbahnstrecke Paris-Rouen beiwohnt, empfindet er ein „unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.“ Der Raum, den die TGVs, ICEs und Artgenossen dem Reisenden vergessen machen wollen, wird dadurch allerdings nicht unbewohnter, und so regt sich Protest, wenn statt der Nordsee schlichter Donnerknall an die Ohren der Anwohner brandet. Und dies nicht nur im Rhonetal.
In den nächsten 25 Jahren soll ein europaweites Streckennetz gebaut werden, das es erlauben würde, von einem nationalen Zentrum aus jede andere europäische Stadt in maximal 17 Stunden zu erreichen. Seit an diesem Hochgeschwindigkeits-Europa gebastelt wird, das die schon jetzt dominanten Zentren näher zusammenrücken lassen wird, regt sich leiser Widerstand in der Provinz. Im südenglischen Kent setzten sich selbst honorable Tory-Parlamentarier gemeinsam mit ihren Wählern auf die Schienen, um gegen eine Schnellstbahntrasse in Richtung Kanaltunnel zu protestieren; im badischen Lichtenau wehrt sich der Gemeinderat dagegen, daß sich deutsches und französisches Steckennetz ausgerechnet in seiner Kommune treffen müssen.
Die Umweltschützer sind gespalten. Trotz der erheblichen Lärmbelästigung befürworten einige Naturschutzverbände in Frankreich die umstrittene Mittelmeerstrecke als kleineres Übel, weil so der Ausbau von Autobahnen vermieden werde und die Inlandflüge zurückgingen.
Doch Zug ist nicht gleich Zug. Im Mutterland der Moderne, Frankreich, gilt die Philosophie der Geraden: am schnellsten und billigsten fährt ein Zug auf dem direkten Weg zwischen zwei Punkten. Egal, was dazwischen liegt - und seien es die letzten Wälder der Provence. Die Rekordgeschwindigkeiten des TGV sind nur möglich, weil die SNCF spezielle, praktisch kurvenlose TGV-Strecken gebaut hat. Zwischenstopps in Provinzstädten sind aufs absolute Minimum reduziert. Zudem sind die Wagen verglichen mit dem bundesdeutschen ICE enger und leichter (was erhebliche Probleme beim geplanten Zusammenschluß der deutschen und französischen Netze mitsichbringen wird: wie preßt man die dicken ICEs in die schmalgebauten TGV-Bahnhöfe?). Die Gegner des französischen TGV halten diesem Kult der Effizienz das ICE-Konzept der Bundesbahn entgegen. ICE-Züge können, dank angeschrägter Gleise und neigungsfähiger Waggons, kurvenreichere, also der Landschaft angepaßtere Strecken fahren. Allerdings müssen sie sich mit einer Geschwindigkeit von 250 bis 300 Stundenkilometern begnügen, während es ihr französischer Artgenosse locker auf 400 Sachen bringt. Doch die deutsche Variante kann dafür anderswo Pluspunkte einsammeln: Vor allem nachts wird in Deutschland auch Güterverkehr über die schnellen Gleise abgewickelt. In Frankreich werden neben Personen gerade noch Postsäcke per TGV verfrachtet. Für den gewöhnlichen Güterverkehr sind die Trassen nicht geeignet.
Noch rauschen keine ICEs durch deutsche Lande. Erst mit dem Sommerfahrplan im nächsten Jahr soll es so weit sein. Als erstes wird dann die Strecke Hamburg-Hannover-Fulda-Würzburg eröffnet, und zum Jahresende sollen die neuen Züge schon auf insgesamt 1.800 Kilometern flitzen. Für das Dezennium 1986 bis 1995 werden laut Verkehrsministerium Kosten in Höhe von 50 Milliarden DM veranschlagt, ein Drittel davon für die mobilen Teile, zwei Drittel für den stabilen Untersatz, die Trassen, die zum großen Teil schon fertiggestellt oder in Bau sind. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts geht es munter voran: 1997 soll die Linie Hannover-Berlin stehen und frühestens für 1998 dürfte auch die Verbindung Köln -Frankfurt fertig sein. Diese Linie, ein Kernstück des künftigen europaweiten Netzes, ist seit den 60er Jahren im Gespräch.
Zum Schluß zögerte immer wieder eine Querele die Planung hinaus: Gegen die rechtsrheinische Variante, die sich nun durchgesetzt hat, opponierten die Rheinland-Pfälzer, die ihr Koblenz an das High-Speed-Netz anschließen wollten, und auch der Bonner Bürgermeister. Der war der Ansicht, ein europäischer Zug könne doch nicht einfach an einer deutschen Hauptstadt vorbeirauschen, ohne anzuhalten. Immerhin macht der künftige Hyperschnellzug nun auf der Höhe von Bonn eine Schleife und pirscht sich ganz nahe an den Rhein heran. Im Bahnhof Villich, gerade noch auf (rechtsrheinischem) Bonner Stadtgebiet, können dann die Hauptstädter zusteigen - wenn sie es 1998 noch sind.
smo/thos
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