Eiderdaunen und Seetang

■ Wolfgang Müller zeigt „Land ohne Eisenbahn“ in der Galerie Zwinger

„Der weite Weg umsonst: Aus Mist Geld machen“, hatte eine erboste Ausstellungsbesucherin ins Gästebuch geschrieben. Dabei hatte Wolfgang Müller die weitere Reise unternommen. Mit Käthe Kruse, mit der er gemeinsam im losen Verband noch als „Tödliche Doris“ agiert, reiste er in diesem Frühjahr ins „Living Art Museum“, zum „Art Festival Reykjavik“, um zu performen und auszustellen. Nach Island also.

Von der Beschwerlichkeit des Unterfangens reden drei quadratische Zeugen ganz oben an der Decke. Über der Tür hängt Frühjahrsspaziergang im deutschen Wald, gegenüber befindet sich, netzartig von Farbe überzogen, Flughafen Keflavik: Gepäckkontrolle 17. Juni 1990 und über der Tür zum Hinterraum, endlich angekommen, Night Life in Gay-Bar Laugavegur 22. Wolfgang Müller kam in die verwirrenden Umstände, Frühling zweimal erleben zu dürfen. Denn der beginnt in Island, wenn es in Mitteleuropa Sommer wird.

Wolfgang Müller war ein aufmerksamer Reisender, keiner, der mit der vollautomatischen Kamera Fotos schießt. Stattdessen zitiert er die Methode der im letzten Jahrhundert in all die damals noch unerforschten Gebiete ausschwärmenden Forscher, die akribisch alles Unbekannte zeichneten, numerierten und sammelten. Auch Müller packte seine Koffer voller isländischer Eigenheiten, brachte sie in die Galerie Zwinger in der Dresdner Straße und stellte neben Fundstückchen die Ergebnisse tieferschürfender Analysen aus.

Sein eigenes Natur- und Heimatkundemuseum hat Müller mit Land ohne Eisenbahn: Island betitelt. Island hatte natürlich einmal eine Schienenverbindung. Die wurde jedoch nach kostspieligem Aufbau wieder stillgelegt. Das Klima hatte den Planern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schneeschmelze und Frost, Erdrutsche und Überschwemmungen erforderten ein Übermaß an Reparaturen. Autofahren ist in Island sehr teuer. Zur Fortbewegung stehen den Einheimischen somit nur Islandpferde zur Verfügung, Omnibusse, die aber unbesetzt von einem Ende der Stadt zum anderen fahren, und die eigenen Füße. Optimale Voraussetzungen, die den Künstler zwischen seinen Auftritten zum „Sachensucher“ (Astrid Lindgren) werden ließen.

Islands Bevölkerung zählt nur etwa 250.000 Köpfe. Bleibt genügend Platz für Landschaft. Von Müllers Begeisterung für geologische und klimatische Besonderheiten der Insel zeugen mehrere Arbeiten. Dem Gletscher, der derart stark das Sonnenlicht reflektiert, daß der eigene Schatten verschwindet, sind gleich zwei gewidmet. Geirfuglglasker (Kugelschreiber und Hausmalfarbe auf Papier) ist ein eher in freundlichem Gelb gehaltenes Bild, das noch nichts von der unheimlichen, todbringenden Kraft des Berges zeigt. Anders sieht es schon bei den Basaltsteinen aus, die es in Island käuflich zu erwerben gibt. Einheimische lassen darauf je nach Anlaß Geburtstagsglückwünsche oder, für Grabsteine, Lebens- und Sterbedaten gravieren. Wolfgang Müller ordnete einen Stein aus der auf einem Sockel stehenden Dreiergruppe dem Gletscher zu und nannte ihn Gletschertod. Ins Gegenteil verkehrt sich die Gigantomanie der Natur auf den Postkarten mit touristenfreundlichen Geysir- und Bergmotiven oder in den in einer Vitrine ausgestellten Miniaturen. Aquarelle auf Holzmodelliermasse, Holz mit Dispersionsfarbe und Tusche zeigen kleine Menschlein und kleine Steine: erfroren auf dem Gletscher, im Geysir verbrüht und vom Stein erschlagen.

Die Vegetation Islands ist weniger aufregend. Schuld daran ist unter anderem das Lavagestein, denn Island ist vulkanischen Ursprungs. Noch immer sind die Vulkane tätig, und vor der Küste entstehen neue Inseln, die, kohlrabenpechschwarz, noch keinerlei Humusbildung aufweisen. Wolfgang Müller griff vor und überlegte, wie die Blumen der Zukunft auf Surtsey aussehen könnten. Mit Aquarellfarbe entstanden auf Pappe zarte Blümchen, die jedem Kinderbuch Ehre machen würden. Auch den Tieren ist das Klima nicht besonders verträglich. Hunde haben auf dem Eiland keine Chance, sie würden ihre Pfoten auf den scharfen Steinen nur verletzen. Anders sieht es mit den Vögeln aus. Jahrhundertelang trieb die Fauna hier seltsame Exzesse. Der Riesenbrillenalk zum Beispiel hatte keine Feinde, bis der Mensch kam. Da sein Fleisch sehr schmackhaft war, war er dann bereits Mitte des letzten Jahrhunderts in die Kochtöpfe gewandert, und zwar komplett. Das Objekt aus Papier, Modelliermasse, Federn, Leinwand, Holz und Glas, Dispersion und Acryl auf Eisentisch für 4.200 DM ist das letzte Denkmal für den gefallenen Helden und Prunkstück der Ausstellung.

Müllers zoologisches Interesse war schon immer ein ornithologisches. Auf Island hielt er Brachvögel fest, zeichnete Strandvögel, pauste Landkarten ab und kolorierte das Verbreitungsgebiet der Vögel, als hätte das vor ihm noch niemand getan. Aber nicht, erster zu sein, ist wichtig, vielmehr die Tatsache, es selber getan zu haben. Müller malte und klebte ein Eiderentenweibchen auf Eiern. Für die isländische Wirtschaft stellen die Eiderdaunen einen nicht zu vernachlässigenden Faktor dar. So hebt man sorgfältig das Weibchen hoch, um die losen Federn aus dem Nest sammeln zu können. Das gute Tier brütet danach einfach weiter und findet neue Federn, die Eier zu wärmen.

Wer nicht Federn sammelt, lebt vielleicht vom Fischfang. Der Anblick der kleinen isländischen Fischerhäuser dürfte weltweit bekannt sein. Was weniger bekannt ist: Die Isländer haben eine eigene Holzmalfarbe, mit der sie ihre Häuser anpinseln, um sie vor der Witterung zu schützen. Da es in Island, ganz anders als hier, keine Vorschriften gibt, in welcher Farbe ein Haus zu prunken hat, hat niemand Hemmungen, sein Haus in Rosa oder Violett zu streichen. Müller machte sich die Eigenschaften der Farbe zunutze: Sie ist extrem witterungsbeständig. So braucht ein Bild nicht einmal gerahmt zu werden: Garantiert hält es Regen und Sonne aus.

Auch wenn prähistorisches Geld (3 Lavakiesel in Pappschachtel) von der frühen ökonomischen Tüchtigkeit der Isländer zeugt, so hat dieses Volk doch Muße genug, sich kulturell zu betätigen. EinE jedeR ist einE SchriftstellerIn. Statt teuer eingekaufte ausländische Filmproduktionen auszustrahlen, läßt das isländische Fernsehen des Abends eher einEn SchriftstellerIn lesen. Tagsüber entstehen die Werke, viele Gedichte sind darunter, in den wenigen Cafes am Ort. So viele Poeten sich da ganz französisch tummeln, so wenige Speisekarten gibt es. Wolfgang Müller wußte Abhilfe. Mit Hausmalfarbe, Aquarell auf Papier und mit Modelliermasse formte er kleine Speisekarten, mit dem Abbild der zu verzehrenden Köstlichkeiten wie „tytuber“, „sild“, „all“, „rabbarbari“ und „seetang“. Der Rest der IsländerInnen, der also nicht Fische fängt, Bücher schreibt oder Essen serviert, ist im „1.FC Borgarfirdi“ organisiert oder hatte früher ein Konto bei der „Gut beraten - Arbeiterbank“, deren Briefpapier Müller, mit Stempel, Bleistift und natürlich Hausmalfarbe versehen, als zeitgeschichtliches Dokument unter Rahmen gelegt hat. Die Überreste dieser Bank liegen irgendwo herum in Kontoren - Verweise auf starke gewerkschaftliche Organisation auf Island.

So ließe sich die Kulturgeschichte Islands endlos weiterschreiben. Achtundfünfzig Exponate in zwei kleinen Räumen, nett neben- und über- und untereinander gehängt und sorgfältigst beschriftet, liefern wie einst bei den Welterforschern genügend Material, sich weitere Details selber auszuschmücken. Die früheren Entdecker waren Gefangene ihres kolonialen Blickes (wir erinnern uns an die lehrreiche Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt). Doch anders als seine Vorgänger, kann Müller keine Exotika mehr vorführen. Island ist bekannt. Bestimmt war auch schon ein Teil der AusstellungsbesucherInnen selber in Island zu Gast. Schließlich war es Anfang der Achtziger Mode, auf der Suche nach der noch reinen Natur das Auswandern nach Island in Angriff zu nehmen. Es wurden dort auch Kinder gezeugt allein, die deutschen Väter kehrten zurück. Und nicht zuletzt wissen auch Isländer, wozu Flugzeuge gut sind. Mit der Geste des Forschers kann Müller nur noch Geschichten erzählen, Geschichten von Wolfgang Müller in Island, Geschichten, die niemand kennt und die somit einmalig sind und neu. Mit der gewollten Subjektivität wird die alte Haltung also auf die Spitze getrieben und in ihr Gegenteil verkehrt.

Eher als nach jedem Dia-Abend guter Freunde, die sogar bis nach China gekommen sind, scheint man dennoch nach einem Besuch bei Zwinger selber in dem anderen Land gewesen zu sein. Wolfgang Müllers Art, die gefundenen Gegenstücke mit einem Spagat zwischen grenzenloser Naivität und hinterlistiger Ironie zu präsentieren, macht das Staunen wieder möglich. In einer Zeit, in der sachkundige Reiseführer unzählige Arten des „richtigen“, „anderen“ oder „sanften“ Reisens erklären, bis schließlich alles erklärt ist und auch der bequemste Mensch sich aufrafft, ein Flugticket zu kaufen, erreicht Müllers Ausstellung das Gegenteil. Das Selber-Reisen scheint sich zu erübrigen. Somit erspart der weite Weg in die Galerie Zwinger einen noch viel weiteren.

Claudia Wahjudi

Bis zum 22.9. in der Dresdner Straße 125, 1-36, Mi.-Fr. 15 -19, Sa. 11-4 Uhr