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Ein Mythos mit Narzißten

■ Der Franzose Plaziat gewinnt den Zehnkampf, Olympiasieger Schenk holt sich Bronze, und auch die westdeutsche Hierarchie wird umgedreht: die Youngster landen vor Altmeister Wentz

Aus Split Michaela Schießl

Selbstbewußt, kraftvoll, wild entschlossen und schön wie aus einem Männerjournal stolzieren sie in die Arena: die Zehnkämpfer, als „Könige der Athleten“ verehrt. Und sie wissen: Zwei Tage lang werden sie alles geben, das Wechselbad von Sieg und Niederlage ertragen, die nervtötenden Pausen überstehen und sich immer wieder aufs neue motivieren.

Zehn Disziplinen stehen ihnen bevor, die alles abverlangen: Schnelligkeit, Ausdauer, Sprungkraft, Koordination - vor allem aber die Fähigkeit zur vollkommenen Erschöpfung. Doch was ist wirklich dran am sagenhaften Mythos Zehnkampf? Alle sind fasziniert, nur: niemand kann so recht formulieren, warum. Denn langwierig und zäh ist dieser Wettkampf, für die Zuschauer schwer zu verfolgen und ohne herausragende Spitzenleistungen. Genau betrachtet wird dabei zwei Tage lang nur Überdurchschnittliches geboten.

Holger Schmidt, Trainer von Vizeweltmeister Siggi Wentz, ist schockiert über solch unglaubliche Ignoranz. „Es ist gerade die Vielseitigkeit, die den Zehnkampf ausmacht. Und der Wille, den Körper bis zum Exzeß zu schinden.“ Der einsame Wolf, der sich dank seiner Kräfte durchs unwirtliche Leben schlägt, jeder Situation gewachsen und jeder Gefahr trotzend? Ein Männertraum?

Wahr ist: Kein anderer Leichtathlet hat eine ähnlich innige Beziehung zu seinem Körper wie ein Zehnkämpfer. Da beschleicht einen doch der Verdacht, daß diese Zehnkämpfer ausgemachte Narzißten sein müßten. „Aber ja“, sagt Schmidt, „wer so eng mit seinem Körper zusammenarbeitet, muß ihn einfach mögen.“ Also sind 28 Narzißten an die jugoslawische Adria gereist, allerdings um den Besten, nicht den Schönsten zu küren. Nervös tänzeln sie um die Startblökke, bis endlich der Schuß ertönt, der das zweitägige Leiden eröffnet.

Die erste Station dauert nur elf Sekunden. Christian Plaziat (26) hastet in 10,72 Sekunden als erster über die Ziellinie. Er träumt davon, den EM-Titel zu gewinnen, endlich einmal auf internationaler Ebene Lorbeeren abzuholen. Bisher war die starke Konkurrenz immer ein kleines Stück voraus. Sollte jetzt nicht einmal er dran sein? Und schon winkt die Chance: Torsten Voss, der Weltmeister, mußte wegen einer Infektion absagen. Ein glanzloser Abschied für den Helden von einst? „Für nichts auf der Welt würde ich auf die phantastischen Duelle mit Dailey Thompson und Jürgen Hingsen verzichten wollen.“ Und sowieso steht der Nachwuchs ungeduldig an.

Michael Kohnle etwa wird schon heute als neuer Thompson gefeiert. Ein Siegertyp, der bisher alles gewonnen hat, was er wollte: Junioren-EM '88, Junioren-WM '89. Und nun Elfter in Split. „Hoffentlich bekommt er keinen Knacks“, hofft sein Trainer Klaus Fiakus. Denn Zehnkampf ist mehr als die Summe von zehn einzelnen Disziplinen. „Die langen Pausen sind das eingentliche Problem. Da psychisch voll dabei zu bleiben, das schafft man nur mit langer Erfahrung“, weiß Fiakus. Dagegen sei die Umstellung der Techniken problemlos, das trainierten sie ja täglich. Zehnkampf - eine Reifeprüfung.

Doch trotz aller Konkurenz, jetzt soll der Zusammehalt der deutschen Zehnkämpfer intensiviert werden. Gestern wurde in Split das „Zehnkampf-Team“ aus der Taufe gehoben. Siggi Wentz‘ Trainer wird die Anlaufstelle sein für den Team -Service, der alles rund um den Zehnkampf, sei es sportlich oder beruflich, organisiert. Als bisher einziger DDR-König ist Christian Schenk, der Olympiasieger von Seoul, mit von der Partie. Sein Vertrag mit Empor Rostock läuft am 31. September aus.

Aber deutsch-deutsche Kräftekonzentration war Plaziat egal: Er wirkte locker und entspannt wie noch nie, mit einem auf Sieg programmierten Kopf. Doch am Ende der abschließenden 1.500 Meter, nach 8.574 erkämpften Punkten, konnte der Meisterliche kaum noch einen Gesichtsmuskel zum Lächeln aktivieren. „Ich kann nicht mehr, ich muß nach Hause, laßt mich gehen“, bat er die Journalisten. Daneben hangelte sich Christian Schenk mit Schlotterknien die Stufen vom Fernsehinterview hinab und stellte trocken fest: „Ich bin tot.“

In einem für seine Verhältnisse unglaublich schnellen Rennen fightete er mit letzter Kraft um Platz zwei. Vergebens. Deszo Szabo war schneller: um gerade mal drei Punkte lief er letztlich an dem Zwei-Meter-Mann vorbei. Dabei galt Schenk als der einzige Konkurrent Plaziats. Doch als der Diskus nicht recht flog und beim Stabhochsprung die 4,40 Meter in Punkte umgerechnet werden mußten, war die Chance vertan.

Für Siggi Wentz schlug die Stunde erheblich früher. Eigentlich plante er den genialen Coup, ohne großen Trainingsaufwand eine Medaille hinter den beiden Favoriten zu ergattern. Nichts wollte klappen. Er führte den verlorenen Zehnkampf aber bewundernswert zu Ende - Hut ab vor dem Zwölften.

Der bedeutet auch einen neue Hierarchie. Die Youngster Frank Müller (22) und Michael Kohnle landeten auf den Plätzen vor ihm. „Denen gehört die Zukunft“, sagt Wentz, „ich bin nicht mehr der Jüngste.“ Viel trainieren wird er nicht mehr. Wenn er fit genug ist um „nicht unangenehm aufzufallen“, wird er im nächsten Jahr noch einmal in Götzis starten - aus Nostalgie. Dann aber ist endgülitg Schluß, und aus dem schwäbischen Adonis Siggi wird der Herr Doktor Wentz.

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