21 Jahre mit einem roten Nummernschild

■ Das Atomkraftwerk Obrigheim lief zwei Jahrzehnte ohne atomrechtliche Grundlage / Der Verwaltungsgerichtshof versetzte der Landesregierung eine Ohrfeige / Die Staatsanwaltschaft ermittelt / Der Reaktor bleibt vorläufig ausgeknipst

Aus Stuttgart Erwin Single

„Können Sie sich vorstellen, daß jemand ein Kernkraftwerk über 19 Jahre illegal betreibt?“. Diese empört-rhetorische Frage stellten im Frühjahr 1987 die Betreiber des dienstältesten komerziellen Atomreaktors der Republik den LeserInnen ihrer Hauspostille - nicht ohne gleich selbst zu antworten: „Wer mit gesundem Menschenverstand darüber nachdenkt, der kann über diese absurde Behauptung nur den Kopf schütteln“. Die Grünen im Stuttgarter Landtag knallten damals einen Atomskandal auf den Tisch der Landesregierung. Mitarbeiter der Öko-Partei hatten ganz tief in den Genehmigungspapieren des AKWs Obrigheim (KWO) gekramt: Der 345-Megawatt-Meiler, so behaupteten sie, besitze keine gültige Betriebsgenehmigung und speise daher seinen Strom illegal ins Netz. Der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof (VGH) gab ihnen im vergangenen Mai auf der ganzen Linie recht: das „Pionierprojekt“ deutscher Atompolitik (Ex -Wirtschaftsminister Martin Herzog) lief von Anfang an mit rotem Nummernschild - nämlich nur im Probebetrieb. Noch am selben Tag zog Lothar Späth die Notbremse und ließ den Schwarzbetrieb vorrübergehend ausknipsen. Nach Ablauf der dreimonatigen unfreiwilligen Verschnaufpause hat die Landesregierung die Entscheidung über die Zukunft des umstrittenen Reaktors weitervertagt. Umweltminister Vetter teilte gestern mit, das AKW bleibe solange stillgelegt bis das Wirtschaftsministerium eine gültige Dauerbetriebsgenehmigung erteilt habe oder das Bundesverwaltungsgericht entscheiden sollte, das eine solche bereits vorliege.

Das Wirtschaftsministerium hatte alle Vorwürfe eines illegalen Betriebs stets mit vollmundigen Gegenattacken vom Tisch gefegt. „Einer besonders ausdrücklichen Genehmigung für den Dauerbetrieb bedarf es nach unserer Einschätzung verbaliter nicht“, belehrte Herzog seine Kritiker noch im letzten Sommer, kurz bevor er sich in die schwäbische Filzindustrie davonmachte. Sein Nachfolger Hermann Schaufler ließ dann mit einer „Schreibtischgenehmigung“ (Die Grünen) im September 1989 das Verfahren für beendet erklären - ohne eine öffentliche Anhörung. Der späte Kunstgriff nutzte allerdings wenig.

Der grüne Fraktionsvorsitzende Rezzo Schlauch sieht sich durch das VGH-Urteil voll bestätigt: Im Wirtschaftsministerium, dem „größten Schlamperladen im Lande“, sei mit der sensibelsten Materie umgegangen worden, als handle es sich um eine Gartenlaube. Die Mannheimer Richter waren zu dem Schluß gekommen, der Betrieb in Obrigheim sei von dem, „was die vorhandenen Teilgenehmigungen rechtlich hergeben“, nicht gedeckt. Die Kammer widersprach damit dem Umweltministerium als Aufsichtsbehörde, das den Antrag von fünf Klägern auf Stillegung des Uralt-Meilers im letzten Jahr zurückgewiesen hatte. Die Behörde berief sich dabei auf die Teilbetriebsgenehmigungen (TBG), die nach ihrer Auffassung auch für den Dauerbetrieb ausreichten. In der zweiten Teilgenehmigung für den Anfahr- und Probebetrieb, 1968 vom damaligen SPD-Wirtschaftsminister Hans-Otto Schwarz erteilt, heißt es jedoch in nicht zu überbietender Eindeutigkeit: „Dieser umfaßt das Kritischmachen des Reaktors, die Nulleistungsversuche sowie den Probebetrieb bei Schwachlasten, Teillast und Vollast. Er umfaßt jedoch nicht den Dauerbetrieb.“

Dafür aber schreibt das Atomrecht eine weitere Genehmigung zwingend vor - und die gibt es für Obrigheim bis heute nicht. Betreiber und Wirtschaftsministerium versuchten deshalb Arm in Arm, den Reaktor mit Nachträgen zur zweiten TBG in den Dauerbetrieb hinüberzumogeln. Durch die redaktionelle Streichung dreier Worte - „für den Probebetrieb“ - sollte das Genehmigungsmanko geräuschlos unter den Teppich gekehrt werden. In einem Nachtrag aus dem Jahr 1979 wurde Obrigheim so kurzerhand zum „seit 1968 mit Genehmigung der zuständigen Behörde“ betriebenen Atomkraftwerk. Später füllten dann nach und nach unzählige Nachträge und Anmerkungen weitere Genehmigungsordner, bis allmählich das Wissen der Beamten über die windige Angelegenheit aus der Frühzeit des AKWs unter den neuen Papierbergen verschwand.

Die nebulöse Ausdehnung des Probebetriebs kam der Landesregierung in den späten Siebzigern ganz gelegen. Die projektierte AKW-Baustelle Wyhl am Kaiserstuhl sorgte damals schon für genug Ärger. Dort, im Dreieckland, hatten sich der unselige Ministerpräsident Filbinger und sein Nachfolger Späth bereits blutige Nasen geholt. Unverrichteter Dinge mußten die Stuttgarter Regenten wieder abziehen - mitsamt Polizeitruppen und Baufahrzeugen. Nicht die Lichter gingen aus, wie die Atomstrategen prophezeit hatten, sondern vielen BürgerInnen am Kaiserstuhl begann zu dämmern, was ihnen da vor die Haustür gestellt werden sollte. Da hätte das Obrigheimer Genehmigungschaos gerade noch gefehlt.

Obwohl Eigentümer (Energieversorgung Schwaben, Badenwerk, Technische Werke Stuttgart, Neckarwerke und einige kleinere Unternehmen) und Regierung sich nach Kräften mühten, den ersten kommerziellen Druckwasserreaktor zum Demonstrationsobjekt für Reaktorsicherheit aufzubauen, kam die Anlage ins Gerede. Weit über hundert Störfälle wurden bekannt, 30mal mußte der Meiler ungeplant abgeschaltet werden; 1972 leckte das AKW 13 Tonnen radioaktives Wasser in den Neckar. Heute, sind Grüne und Atomkraftgegner überzeugt, entspreche der „Schrottreaktor“ längst nicht mehr den Sicherheitsbestimmungen. Das Ur-AKW sei weder gegen Erdbeben noch gegen einen Abriß der Hauptkühlmittelleitung geschützt, der Berstschutz sei zu dünn und die beim Bau der Druckbehälter verwendeten Stähle seien gegen Versprödungsprozesse nicht dauerhaft resistent. Trotz Nachrüstungen, so AKW-Sicherheitsexperten, würde die Anlage ein neuerliches Genehmigungsverfahren nicht mehr überstehen.

Man schrieb das Jahr 1987, als die Grünen dem Alt-Reaktor, mit einer Sicherheitsstudie des Darmstädter Öko-Instituts in der Tasche, endgültig ans Leder wollten. Bei ihren Untersuchungen stießen die Öko-Wissenschaftler auf die unglaubliche Genehmigungslücke. Landtagsabgeordnete der Grünen stellten umgehend Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Mosbach - wegen unerlaubten Betriebs einer kerntechnischen Anlage. Vollmundig wiegelte Wirtschaftsminister Herzog ab: Obrigheim besitze „die für den Dauerbetrieb erforderliche Genehmigung“.

Zu früh gebrüllt. Den nächsten Schlag versetzte der konservative Verwaltungsrechtler und Berater des Bundesumweltministers, Rainer Wahl, dem Argumentationsgebäude der Behörde. Wahl, 1989 von der Staatsanwaltschaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens mit einem Gutachten beauftragt, kam zu einem eindeutigen Ergebnis: keine Dauerbetriebsgenehmigung für das AKW, schwerwiegende Verfahrensfehler der Landesregierung. Daraufhin klagten fünf BürgerInnen aus dem Raum Obrigheim erfolgreich beim Verwaltungsgerichtshof gegen den Weiterbetrieb der Anlage. Nach dem Mannheimer Richterspruch wird die Staatsanwaltschaft die ausgesetzten Ermittlungen gegen Betreiber und Genehmigungsbehörde wiederaufnehmen. Die Grünen verlangen bereits strafrechtliche Konsequenzen. Selbst das Stuttgarter Umweltministerium scheint einen solchen Ausgang nicht mehr für abwegig zu halten. In seiner Stillegungsanordnung heißt es, der Betrieb einer Atomanlage ohne die erforderliche Genehmigung stelle eine Straftat dar. Das gelte auch für fahrlässiges Handeln.

Die Betreiber scheint das nicht anzufechten, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Sie verbreiten weiter Optimismus. KWO-Direktor Paul Dangelmeier hält die Anlage „technisch für genauso sicher wie ein neues Kraftwerk“. Nach der vorgezogenen technischen Revision wollen die Betreiber im September einen Antrag auf Wiederinbetriebnahme stellen. Insgeheim scheinen sie sich aber bereits auf das endgültige Aus einzurichten: Über eine Änderung des Gesellschaftervertrages sollen die beteiligten Stromunternehmen auf eine finanzielle Beteiligung an den Stillegungskosten verpflichtet werden. Die hierfür atomrechtlich vorgeschriebenen Rückstellungen belaufen sich auf 1,3 Milliarden DM. Angeblich liegen aber erst 750 Millionen auf der hohen Kante.

Tatenlos wollen die Stromherren dem drohenden Aus ihres Atomkraftwerks indes auf keinen Fall zusehen. Ausgerechnet Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel (CDU), dessen Technische Werke 14 Prozent der Anteile halten, schiebt die ganze Schuld an dem Genehmigungswirrwarr auf das Konto der CDU-Landesregierung und droht mit Schadensersatzansprüchen. Betreiber-Anwalt Klaus-Peter Dolde besitzt auf diesem Gebiet einschlägige Erfahrung: Im bisher größten Schadensersatzprozeß der Republik hatte der versierte Atomrechtler die Kohlen für den Nudelfabrikanten Birkel aus dem Feuer geholt - gegen das Land Baden-Württemberg.