Fünf Jahre Offener Kanal in Berlin

■ „Wir kontrollieren keine Inhalte, wir sehen uns nur die Filme an, ob sie technisch o.k. sind“

Von Eva Schweitzer

„Also, ich lese lieber das 'Spandauer Volksblatt'“, sagt nunmehr schon der dritte junge Mann entschieden. Kurz darauf setzt von neuem kreischende Musik ein, es wird übergeblendet auf einen Funktionär der Alternativen Liste, der den Mund aufklappt. Wir befinden uns in einer Berliner Kneipe und gucken ein Video, das taz lügt oder so ähnlich heißt. Jedenfalls setzt es sich kritisch mit einem stadtbekannten Schweineblatt auseinander. Dies war meine erste Berührung mit dem „offenen Kanal“, dem Fernsehen, das Bürger kostenlos für Bürger machen können. Es blieb auch für lange Zeit die einzige, denn der „Offene Kanal“ ist nur über Kabel zu empfangen.

Kabel hat inzwischen knapp die Hälfte aller (West)-Berliner Haushalte, nämlich 571.000. Von denen sehen, nach einer Erhebung des Forsa-Institutes, drei Prozent, das entspricht etwa 30.000 Menschen, den Offenen Kanal täglich. Ein Drittel alller Fernsehteilnehmer hat schon einmal hineingesehen, darunter sind die 14 bis 40jährigen Männer überrepräsentiert. Der Offene Kanal betreibt außerdem einen Radiosender, ebenfalls über Kabel zu empfangen, der etwa 20.000 Hörer täglich hat. Vor allem beim Radio wäre den Betreibern eine terrestrische Frequenz lieber, man hofft auf freie Frequenzen in der DDR. Der Kanal, im Rahmen des Kabelversuchs gestartet, feierte diese Woche sein fünfjähriges Jubiläum und gleichzeitig sein Ende als „Versuchskarnickel“: Mit einem Überleitungsgesetz installiert der Berliner Senat den Dauerbetrieb und sichert gut ein Dutzend Arbeitsplätze.

Im Offenen Kanal kann jeder alles senden. „Wir kontrollieren keine Inhalte, wir sehen uns nur die Filme an, ob sie technisch o.k. sind“, meint „Medienassistentin“ Dagmar Schuricht. Natürlich gebe es gelegentlich Probleme. So hätten sich einmal Zuschauer über einen Film türkischer Fundamentalisten beschwert, ein anderes Mal wurde ein Pornofilm am Nachmittag gezeigt - was ein gerichtliches Nachspiel nach sich zog - aber schließlich könne man sich hinterher beim Kabelrat beschweren, und die Macher der Filme würden mit Namen eingeblendet. Im Übrigen müsse sich der offene Kanal ans BGB halten, dürfe also nicht zur Gewalt aufrufen. Der Offene Kanal stellt den Nutzern kostenlos die Technik zur Verfügung und erklärt ihnen, wie Kameras und Mischpulte zu bedienen sind. Ein großes Studio mit Beleuchtungsanlage und drei Kameras ist in einer ehemaligen Fabrikhalle in der Weddinger Voltastraße eingerichtet, gleich neben dem alten taz-Domizil und benachbart zum Privatsender Rias TV. Weiter gibt es ein kleines Studio mit zwei Kameras, Bildmischer und zwei Mikros für aktuelle Sendungen. Dort finden einige Leute, etwa zu einer Diskussionsrunde, Platz. „Wer hier raucht, ißt oder trinkt, bekommt vier Wochen Hausverbot“, heißt es auf einem Schild, leider fest an die Wand geschraubt. Über einen der Monitore läuft geheimnisvoll ein Mann mit einem blauen Schirm vor und rückwaärts. Der Kanal besitzt außerdem sieben vergleichsweise pflegeleichte, tragbare Videokameras mit Tonspur, sogenannte Camcorder, zur Ausleihe. Gedreht wird auf VHS. Im ersten Stock befindet sich ein Radiostudio, „professionell“, wie Olaf erklärt, der gerade eine Musiksendung moderiert: Zwei Plattenspieler, ein CD-PLayer, ein Misch- und Schneidepult. Alles blinkt, und es sieht deutlich wohlhabender aus als bei so manch alternativem Privatsender. „Die Angst vor dem Mikro muß man überwinden“, sagt Olaf noch, bevor er ein paar „junge Christen“ begrüßt, die ihre Platten auspacken.

Die Medienassistenten weisen in die Technick ein und sind ständig im Haus anwesend, falls mal etwas nicht klappt. Aber arbeiten müssen die Macher schon selbst. „Wer einen längeren Film im großen Studio dreht, mit Licht und allen Kameras, braucht sechs, sieben Leute zur Produktion“, meint Frau Schuricht. Etwa die Hälfte des Sendebetriebs ist life, die andere wird vorproduziert. Früher wurde mehr vorgefertigt, bis zu viele Leute - sehr zeitaufwendige - Videoclips drehten. Das Urheberrecht der Filme verbleibt bei den Machern, das Nutzungsrecht hingegen beim Offenen Kanal. „Wer einen OK-Beitrag an die ARD verkauft, muß uns dafür zahlen“, meint Frau Schuricht. Zwar sei dies kaum zu kontrollieren, da jeder seine Filme per Videokassette mit nach Hause nehmen kann. „Aber den großen Sendeanstalten ist der technische Standard ohnehin nicht gut genug.“

Der Offene Kanal läuft ohne Werbung und wurde zunächst aus dem sogenannten Kabelgroschen finanziert. Mit dem Überleitungsgesetz kommt der Etat von 1,5 Millionen im Jahr aus den Rundfunk- und Fernsehgebühren. Dies ist vergleichsweise wenig für ein tägliches Programm von 16.00 bis 23.00 Uhr und teils bis 24.00 Uhr, wie Frau Schuricht betont. Ein „Spartenprogramm“, also eine Einteilung der Sendezeit in bestimmte Kategorien - Kinder -, Unterhaltungs -, Politiksendungen gibt es nicht, gesendet wird nach dem „Prinzip Schlange“: In der Reihenfolge, in der sich die Interessenten anmelden, was diese acht Wochen im voraus müssen. Daneben wird von 18.00 bis 19.00 Uhr aktuell gesendet, dafür können sich Leute frühestens fünf Tage bis zu einer Stunde vorher melden.

Ein Spartenprogramm zu machen, wird unter den Mitarbeitern bislang nur diskutiert. „Das hieße, wir müßten einzelne Redaktionen bilden, die müßten sich untereinander abstimmen, das würde die Verwaltung vergrößern“, meint Frau Schuricht. Für den Zuschauer seien Sparten zwar übersichtlicher, aber man würde ja die Programminformationen an alle Zeitungen weiterleiten. Bremen, in dem es einen von 13 Offenen Kanälen der BRD gebe, versuche dies allerdings.

Die Nutzer des Kanals sind sehr verschieden. Der älteste ist 83 Jahre, der jüngste 12 Jahre alt, über die Hälfte sind zwischen 18 und 30 Jahren, darunter viele Ausländer. 3.600 Interessenten gab es bis heute, von denen einige immer wieder kommen. Am Anfang meldeten sich 45 Leute in der Woche, heute sind es schon 90. Über drei Viertel sind allerdings, räumt Frau Schuricht ein, Männer. „Frauen haben weniger Zugang zur Technik, mehr Ressentiments“. Selbst Workshops nur für Frauen gibt es inzwischen mangels Nachfrage nicht mehr. Auch die Filme sind sehr verschieden. An einem Abend zeigt der Offene Kanal zunächst ein Seniorenkabarett, dann Musik und schließlich koreanisches Tanztheater, wie ich, nunmehr selbst am Kabel hängend, feststelle.

Aus dem noch kabelfreien Ost-Berlin meldeten sich seit November 75 „Jungfilmer“. Der Offene Kanal überlegt sich sogar, eine erste Außenstelle in der Ostberliner Neubausiedlung Marzahn aufzumachen, wo es eine Kabelnetzanlage gibt. „Mit den Leuten aus der DDR zu arbeiten, ist sehr angenehm, während manche Westler es einen spüren lassen, daß man als Mitarbeiter ja auch „kostenlos“ ist“, meint Frau Schuricht. Politisch interessiert seien die DDRler weniger. Viele theoretisch vorgebildete Filmhochschüler seien darunter, die begeistert seien von dem „Paradies“, den ungeahnten, dazu noch kostenlosen technischen Möglichkeiten des Westens.

Nun erscheint auf dem Bildschirm das stadtbekannte Springerhochhaus. Ein „Redakteur“ des Blattes „Lüge“ tritt auf. Nein, über die Machenschaften des Ministerpräsidenten Schnorchel habe man nichts gewußt“, sagt er ernst in die Kamera. Kurz darauf ragt Schnorchel aus der Badewanne. Bevor die Spannung mich zerreißt, schalte ich um auf „Pro 7“, wo Komissar Kottan ermittelt.

Wer selbst einen Film oder ein Hörstück machen will, kann sich wenden an den Offenen Kanal, Voltastraße 5, 1 Berlin 65, Tel. (030)-46002-191