Das Granada der Gitanos

■ „Sie hatte Jasminblüten im Haar... Ihre Mantilla schlang sie um den Kopf, derart, daß nur eines ihrer großen Augen zu sehen blieb... (Carmen-Ouvertüre von G. Bizet).

Aus Granada FRIEDHELM ROTH und GABRIELE LANGE

Viele Jahrhunderte lang wurden hier, so berichten die Chroniken, auf dem großen Freigelände vor den Toren der Stadt nicht nur Militärparaden und öffentliche Hinrichtungen zelebriert, sondern auch der Viehmarkt abgehalten. Und dabei haben sich als Tierzüchter, Schafscherer oder Schlächter von jeher die Gitanos nützlich gemacht.

Als Zwischenhändler oder Besitzer von Lasttieren oder Reitpferden zu arbeiten, ist heute noch einer der lukrativsten Berufe. Vor allem den Eseltreibern fehlt es nie an Aufträgen. Die Quadratschädel unter den Vierbeinern sind nämlich für das Baugewerbe unentbehrlich. Durch die engen und verwinkelten Gassen des Albayzin passen keine Laster oder Kleintransporter. Wer in diesem alten arabischen Teil der Stadt seinen Carmen renovieren will, die für das Viertel typische maurische Gartenvilla mit Patio, der muß auf die Zigeuner mit ihren Maultierkarawanen zurückgreifen. 50 Mark kostet die Transportstunde für Bauschutt, Steine und Zement.

Nur wenige Schritte vom Plaza del Trifuno entfernt liegt das Viertel San Ildefonso, rings umd die gleichnamige Kirche. Im Jahre 1530 soll hier die erste katholische Trauung eines Zigeunerpaares in Granada stattgefunden haben. Während sich die Spanier nach der Vertreibung der Mauren in den verlassenen Palästen und Villen einrichten konnten, fanden die Gitanos oder Kale, wie sie damals noch hießen, ihre Bleibe in den Höhlen, die bei dem Bau der Befestigungsanlagen entstanden waren, damals noch extramuros, außerhalb der Stadtmauern.

Auch fast fünfhundert Jahre später findet sich hier noch eine fast intakte Gitano-Siedlung. Vor allem die Pferdezüchter und Eseltreiber sind hier zu Hause. Wer sich an der Kirche San Ildefonso vorbei in dem Labyrinth von Gäßchen den Berg hinaufschlängelt, wird bald meinen, in ein verarmtes andalusisches Dorf geraten zu sein: Kläffende Hunde lärmen um die Wette mit einem Hühnerhof, der hinter rostigen Bettgestellen verschanzt liegt; ausrangierte Eselkarren versperren den Weg; an einem Brunnen drängeln sich durstige Pferde, und aus einer tief in den Berg getriebenen Höhle stinkt und dröhnt es nach Kuhstall.

Es ist nicht schwer, hier einen Eindruck vom häuslichen Leben der Gitanos zu gewinnen, denn das spielt sich zum großen Teil auf dem Platz vor den meist baufälligen kleinen Häusern ab. Da wäscht eine Mozuela, ein Mädchen im sogenannten heiratsfähigen Alter von 14 Jahren, im Brunnenwasser die weißen Hemden ihrer älteren Brüder. Die handwerkeln und wienern derweil an einem in die Jahre gekommenen Seat 127 herum. Die abgearbeitete Mutter schürt in einer großen Metallschüssel ein kräftig loderndes Holzfeuer - tägliche Vorbereitung für die „fogata“. Abends sitzt die ganze Sippschaft um diesen schwelenden Freiluftofen vor der offenen Haustür. Alle sind dabei: das Neugeborene auf dem Arm der 16jährigen, die Großmutter, die halbwüchsigen „muchachos“ und der „tio“, der Familienvorstand, erkennbar an der „vara“, einem schlanken Spazierstock, dem Zeichen seiner besonderen Macht. Wenn nicht lautstark palavert wird, führt der Fernseher das Wort. Die Feuerschüssel mit der heißen Glut dient dann als mobile Heizung in der klassischen Wohnstube.

„Mi gente“, meine Leute, nennt Loli Fernandez liebevoll alle, die zu ihrer Sippschaft gehören. Ich habe sie in ihrer Wohnung im Barrio San Ildefonso besucht, um Genaueres über das Leben in ihrer Familie zu erfahren:

„Mich hat man anders erzogen als eine Nicht-Zigeunerin. Das gilt ganz allgemein. Zum Beispiel unser Sinn für die Familie. Man erzieht uns eben stärker dazu, Werte unserer Kultur wie den Wert der Familie oder des Ehemanns zu achten. Aber natürlich nicht in einem machistischen Sinn. Machismo ist ein Begriff der Payos (Nicht-Zigeuner), der heute in Mode gekommen ist. Klar, wenn man die Gitanos vom Standpunkt der Payos betrachtet, sind sie Machos. Von unserem Standpunkt aus aber nicht. Denn innerhalb unserer Gemeinschaft hat jeder eine ganz bestimmte Rolle.

Die Rolle der Frau besteht vor allem darin, eine gute Hausfrau zu sein. In unserer Kultur hat eine Frau nur die Perspektive, zu heiraten, Kinder zu bekommen und natürlich zu arbeiten. Den Mann, die Kinder, die Alten und das Haus zu versorgen. Der Mann vertritt seine Familie nach außen. Aber wenn ein Problem auftritt, wird er in jedem Fall seine Frau um Rat fragen. Frauen werden in unserer Kultur sehr geschätzt. Auch wenn ein Mann das öffentlich nie zugeben würde, er weiß ganz genau, daß die Frau eine sehr wichtige Aufgabe hat. Sie ist es, die die Kultur der Zigeuner aufrechterhält, denn sie erzieht die Kinder, sie vermittelt ihnen die Tradition, sie ist es, die arbeitet. Deshalb schätzt er sie.“

Das wäre ja auch noch schöner, wenn er sie bei dem Arbeitspensum nicht zu schätzen wüßte. “...und drinnen waltet die tüchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder...“ geht es mir durch den Kopf. Aber die Parallele zu der traditionellen Familienidylle aus Schillers Lied von der Glocke stimmt nicht ganz. Denn arbeiten bedeutet für die Zigeunerin immer auch, außer Haus zu sein, und Familie, das ist für sie nicht nur der Ehemann und die Kinder, sondern mindestens auch noch die Brüder, die Onkel, die Großeltern, die Schwager und Schwägerinnen, die Vettern ersten und zweiten Grades...

„Linaje“ nennen sie das, ein ganzer Familienzweig gehört dazu. Während ich die Geranien auf dem Balkon von Lolis Wohnung bewundere, bereitet sie mir eine Tostaca vor, ein geröstetes Weißbrot. An den Wänden unzählige Familienfotos, Hochzeitsbilder, Tauferinnerungen, Kommunionsporträts, die ganze Verwandtschaft auf einen Blick. Aber gibt es in so einer Großfamilie denn tatsächlich noch einen Zusammenhalt?

Unter dem gleichen Dach leben heute gewöhnlich nur die Eltern mit den noch unverheirateten Kindern. Das sind in Granada durchschnittlich sechs Personen. Die Geburtenzahlen sind hier auch unter den Gitanos zurückgegangen. Immerhin, in jeder zehnten Familie gibt es noch mehr als acht Kinder, die Hälfte aller Familien hat mehr als vier Kinder. Eine „Linaje“, ein Familienzweig umfaßt da schnell mehr als hundert Personen. Innerhalb der Großfamilie ist der „tio“ die Autoritätsperson, der alle anderen unbedingt Gehorsam leisten müssen. Seine Macht hängt von der Anzahl und Stärke der männlichen Personen ab, die er im Notfall mobilisieren kann. Er wird aber auch nur als „tio“ akzeptiert, wenn sich seine Sorgen um die Sippe als wirksam und vernünftig erweisen. Diese nach außen streng hierarchische Organisation der Großfamilie hatte eine wichtige Schutzfunktion, als die Zigeuner noch durch die Lande zogen. Bei den fast vollständig seßhaft gewordenen Gitanos von Granada hat sie zunehmend an Bedeutung verloren. Die neuen, an der Kleinfamilien orientierten Wohnformen und die Nachbarschaftsbeziehungen in den neuen Stadtteilen haben das Sozialgefüge einem starken Wandel unterzogen.

er Besuch einer Zambra gehört seit dem romantisch inspirierten Granadatourismus in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu den besonders exotischen Attraktionen. 1862 schon schrieb ein gewisser Davilliers in seinem Reisebericht, daß „kein Ausländer Granada verlassen will, ohne den Tanz der Zigeunerinnen gesehen zu haben“. Ursprünglich war die Zambra ein Fest der Zigeuner mit Gesang und Tanz. Aber schon seit mehr als hundert Jahren wird es nun für die Reisenden ein kleines musikalisches Spektakel inszeniert.

Authentisch ist heute am ehesten noch der Schauplatz: eine langgestreckte Höhle, in den weichen Lößfels des Sacromonte gegraben, an den weißgekalkten Wänden jede Menge blinkendes Kupfergeschirr, rings um die Tanzfläche eine dicke Reihe von kleinen Stühlen. Was hier in der guten Stube einer der zahllosen Höhlenwohnungen nachmittags geboten wird, ist vor allem an den Erwartungen der internationalen Reisegruppen orientiert, die in Kleinbussen vorgefahren werden: Eine Art Pauschal-Flamenco mit viel Bein, viel Kolorit in Stimmen und Kostüm und einer forcierten Fröhlichkeit. Die auch nicht davor zurückschreckt, den einen oder anderen wagemutigen Zuschauer zu einem Sevillana-Tänzchen zu animieren. Nachts ab zwei Uhr dagegen, wenn sich die Höhlen mit Nachbarn und Freunden gefüllt haben, dann ist da noch manchmal tatsächlich der Flamenco-Teufel los.

Ob nun vor Touristen oder Kennern, wer im Show-Geschäft des Flamenco sein Auskommen gefunden hat, kann sich glücklich preisen. Denn diese Künstlerfamilien haben von allen Gitanos das beste Einkommen und genießen auch unter ihresgleichen das höchste Ansehen.

Jose Antonio Fernandez Fajardo, mit Künstlernamen Pare, tritt als Flamenco-Gitarrist Abend für Abend in der „Reine Mora“ auf, einer der drei „Tablaos flamenco“, die es in Granada noch gibt. „Die Zambra, das ist auch Flamenco, aber es ist eher Folklore als Flamenco. Aus den Zambras sind allerdings sehr gute Gitarristen hervorgegangen. Wir Gitarristen haben alle einmal in einer Zambra angefangen. Ich kann mehr oder weniger vom Flamenco leben. Das klappt. Was wir verdienen, ist für die Familie. Wenn wir nichts zu essen haben, dann essen wir eben nichts. Was wir verdienen, ist jedenfalls für alle.“

Zu der alten Streitfrage, ob auch ein „Payo“, ein Nicht -Zigeuner, echten Flamenco spielen kann, hat er eine wenig dogmatische Einstellung: „Alle die Flamenco spielen, machen das, weil es ihnen Spaß macht. Es kommt nicht darauf an, ob sie Payo oder Gitano sind. Eine Schwierigkeit gibt es allerdings für den Payo schon. Selbst wenn er gute Lehrer hat, er erreicht nie den besonderen Anschlag eines Zigeuners. Selbst wenn er die Technik lernt, erreicht er doch nicht den gleichen Klang, den gleichen Schwung, die gleiche Kunstfertigkeit. Es ist einfach nicht dasselbe. Ich habe mit sieben Jahren zu spielen gelernt, bei meinem Vater. Ich habe ihm beim Spielen zugeschaut, dann haben wir darüber geredet, dann habe ich anderen zugeschaut und so weiter.“

it 39 Prozent Anteil an der Bevölkerung des Sacromonte haben die Zigeuner diesen Stadtteil geprägt und es verstanden, aus der touristischen Neugier an den Höhlenbewohnern und ihrer Musik einen bescheidenen Gewinn zu erzielen. „Der Zigeuner des Sacromonte ist vollständig mit seiner Stadt verwachsen und eingebettet in einer Art ökologischer Nische. Der Tourismus und die Flamenco-Vorstellungen ermöglichen ihm eine spezielle Symbiose mit der Stadt - er lebt am Rande und ist doch integriert“. Zu diesem Ergebnis kommt die „Antropologia urbana de los Gitanos de Granada“, eine Feldstudie, die 1986 im Auftrag der Stadt erarbeitet wurde.

Der Flamenco-Gitarrist Pare kann das bestätigen. Bei dem Stichwort „Rassismus“ muß er erst eine Weile überlegen: „Dort, wo ich mich normalerweise bewege, akzeptieren sie mich. Vielleicht aufgrund meiner Art, mich zu benehmen. Ich habe immer viele Freunde gehabt, und da spielt es keine Rolle, ob ich Zigeuner bin oder Payo. Das ist ganz unwichtig. Manchmal, da gibt es vielleicht so etwas wie Rassismus. Zum Beispiel beim Arzt, da kommst du vielleicht später dran, weil du Zigeuner bist. Aber in der Schule habe ich das nicht erlebt.“

Fast scheint es so, als würde in Granada so etwas wie ein mulikulturelles Gemeinwesen funktionieren, als könnten hier die sonst überall an den Rand gedrängten Zigeuner mitten unter lauter Nicht-Zigeunern leben, als würden hier ihre besonderen Gewohnheiten und ihre Kultur wenn nicht anerkannt so doch zumindest geduldet.

Wer als Zigeuner in Granada heute allerdings nicht vom Flamenco oder vom Kleintransport leben kann - und das sind mehr als 80 Prozent - der sieht sich in einer ähnlich aussichtslosen Lage, wie die Sinti und Roma in anderen Teilen Europas auch. Auch die „ökologischen Nischen“ in dem traditionsreichen Wohnviertel am Sacromonte sind inzwischen von der Auszehrung bedroht: Vernagelte Haustüren, von Müll überquellende ehemalige Bars, und zerfallene Höhleneingänge. Ein Spaziergang durch den berühmten Camino del Monte vermittelt eher den Eindruck eines verlassenen Dorfes. Drei Zambras und eine Diskothek können sich gerade noch über Wasser halten, wo sich vor ein paar Jahren die „movida“ Granadas, der allabendliche Ansturm auf Musik, Tanz und „Cuba libre“, konzentrierte. Der Stadt scheint der unaufhaltsame Exodus vom Sacromonte nur recht zu sein. Die Grundstücke dieses Viertels in bester Hanglage mit Alhambra -Blick sind ein allzu verlockendes Spekulationsobjekt. Im oberen Teil haben bereits die Erschließungsarbeiten für eine neue Wohnsiedlung begonnen. Schlechte Zeiten für die Zambra -Familien.