Humanitäre Grenzen in der Auvergne

■ 48 Tschernobyl-Kinder zur Sommerfrische in Frankreich / Dorfbürgermeister wehrte sich dagegen

Aus Saint Antheme A.Smoltczyk

Auch humanitäre Aktionen haben mitunter ihre Tücken. War doch da eine Gruppe von Pariser Psychiatern und Ärzten im März nach Tschernobyl gereist und hatte anschließend, geschockt über die psychischen Spätfolgen der Katastrophe gerade bei Kindern, einen Verein gegeründet: „Die Kinder von Tschernobyl.“ Der Verein sollte eine Diagnosestation in der Ukraine finanzieren und an französische Gemeinden und Einrichtungen appellieren, Kinder aus der verseuchten Zone in die Sommerfrische einzuladen. Was denn auch geschah.

Saint Antheme ist ein Bergdorf von tausend Einwohnern, versteckt irgendwo in den Falten des Zentralmassivs und bekannt für seinen Schimmelkäse. Hier verbringen 48 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 20 Jahren aus Pripjat, jener Hochhausstadt in unmittelbarer Nähe des Reaktors 4, ihre Ferien. „Am Morgen haben wir das Feuer von unserem Fenster aus gesehen. Aber wir konnten natürlich nicht glauben, daß es gefährlich sein würde“, erzählt Natalia Gontscharova, eine der Begleiterinnen der Gruppe. Und „natürlich“ sollte es auch 36 Stunden dauern, bis die ersten der 52.000 Bewohner von Pripjat evakuiert wurden. Seither leben sie in Kiew, in ähnlichen Betonblocks wie zuvor.

Evakuiert wurde die Gruppe, kaum daß sie französischen Boden betreten hatte, noch ein zweites Mal. Denn Saint Antheme ist nicht das erste Quartier der Ukrainer auf französischem Boden. Nachdem der radioaktive Fallout Tschernobyls im Mai 1986 bekanntlich an den Grenzen Frankreichs Halt machte, witterte nun ein Bürgermeister Gefahr von den Überlebenden. Monsieur Rene Martin, Bürgermeister des Dorfes Larodde in der Auvergne, drohte Anfang August mit seinem Rücktritt, falls die gerade eingetroffenen Kinder seine Gemeinde nicht wieder verließen: Die angeblich strahlenden Sommerfrischler stellten eine Gefahr für die Gesundheit seiner Bürger dar...

„Ein haarsträubender Vorgang“, meint die Präsidentin von 'Die Kinder von Tschernobyl‘, Dr. Marie-Laurence Simonet, auch wenn sich der Bürgermeister inzwischen bei ihr entschuldigt hat. Sie bedauert es allerdings auch, daß den Kindern auf Weisung der ukrainischen Regierung eine Intensivuntersuchung durch Pariser Ärzte verboten wurde. Befürchtet man unangenehme Diagnosen? Die sehr offiziöse Frau Gontscharova hüllt sich auf diese Frage in charmantes Schweigen.

Auf den ersten Blick läßt nichts vermuten, daß die Jugendlichen aus Tschernobyl kommen und nicht aus dem Nachbardorf. Etwas altmodische Trainingsanzüge, eine weiße Schleife im Haar, gewiß, aber sonst radeln, baden, kicken sie ebenso wie die anderen Gäste des Heims, hängen vor dem Fernseher oder blättern in Modemagazinen. Die „Havarie“, die sich vor ihrem Fenster abgespielt hat und jetzt beste Chancen hat, zum einzig bleibenden Vermächtnis des Leninismus zu werden, spielt für die Kinder in Saint Antheme eine erstaunlich geringe Rolle.

Aber sie sind eben doch anders. „Alle Kinder haben Gesundheitsprobleme. Ihr Immunsystem ist geschwächt, sie haben Magenschmerzen und Probleme mit der Schilddrüse“, sagt die andere Begleiterin, Alla Trubizina, deren Mann selbst im Reaktorblock 4 gearbeitet hat. Eigentlich, gibt sie zu, sollten die Kinder auch nur abgekochtes Wasser trinken und nicht ohne Kopfbedeckung aus dem Haus gehen. „Aber sagen Sie das mal einem 16jährigen... Die wollen doch nicht wie die Clowns herumlaufen in Saint Antheme.“ Auch Tschernobyl -Kinder haben ein Recht auf Normalität, gerade sie.