Offener Streit über Wirtschaftsreform

■ Zwischen Regierungskomission und einer von Jelzin und Gorbatschow eingerichteten Wirtschaftskomission ist der Kampf ausgebrochen / Gorbatschow sucht den festen Grund bei Jelzin

Aus Moskau K.H. Donath

Die letzten Tage in Moskau haben wieder etwas für Verwirrung gesorgt. Erst vor einer Woche hatte Gorbatschow in seiner Eigenschaft als Präsident ein Dekret unterzeichnet, in dem er den Erlaß der Russischen Föderation über den „Schutz der ökonomischen Grundlage der Souveränität der RSFSR“ für verfassungswidrig erklärte. Darin hatte der Oberste Sowjet der größten Republik der UdSSR unter der Leitung seines Präsidenten Boris Jelzin am 9. August sein alleiniges Verfügungsrecht über die materiellen Ressourcen der Republik festgeschrieben.

Dies hätte genügend Zündstoff für eine handfeste Auseinandersetzung zwischen beiden Kontrahenten liefern können. Aber wenige Tage später präsentieren sich beide Politiker der Öffentlichkeit, als hätten sie schon immer im gleichen Boot gesessen: Er könne die Absichten verstehen, kommentierte Gorbatschow diesen Vorgang, viele Gesetze seien überholt und revisionsbedürftig. Aber bitte schön! Änderungen sollten doch in Übereinkunft mit den Organen der Union getroffen werden, meinte der Präsident schulmeisterlich und wandte sich an Jelzin, der nur noch hinzufügen konnte, „aber auch im Interesse Rußlands“.

Seine schwindende Bedeutung als Präsident der Union, deren einzelne Teile nach und nach Republikrecht vor Unionsrecht proklamieren, hält Gorbatschow dazu an, die Nähe des populären Jelzin zu suchen. Denn ohne daß bereits die Umrisse des neuen Unionsvertrages sichtbar wären, läßt sich festhalten: Die unter Jelzins Ägide verabschiedete Deklaration der Souveränität der RSFSR hat die zukünftigen Bindungen der Unionsrepubliken präjudiziert. Demnach dürfte die Union nur noch solche Aufgaben wahrnehmen, die die Republiken freiwillig an das Zentrum delegieren.

Die Umorientierung Gorbatschows unterstreicht auch die Händel um das neue „500-Tage-Wirtschaftsprogramm“. Bereits im Mai hatte Ministerpräsident Ryschkow ein Reformpaket vorgelegt, das wegen seiner Mängel vom Obersten Sowjet nicht verabschiedet worden war. Zur Neuüberarbeitung wurde Ryschkow bis zum 1. September Zeit eingeräumt. Das Kernelement der Reform beschränkte sich auf eine drastische Preiserhöhung für Waren des alltäglichen Bedarfs, die einen Protestschrei in der Bevölkerung hervorrief und zu Hamsterkäufen führte. Auch ansonsten wurde das starre administrative System nicht an der Wurzel gepackt.

Als sich abzeichnete, daß auch die überarbeitete Fassung keine wesentlichen Verbesserungen bringen würde, richtete Gorbatschow Anfang August eine „Präsidentenkomission“ ein, die ebenfalls bis zum 1. September ein Konzept vorlegen soll. Ihr gehören unter anderem die reformfreudigeren Ökonomen Stanislaw Schatalin und Nikolai Petrakow an, deren Vorstellungen breiten Niederschlag in Jelzins Programm für die Russische Föderation gefunden hatten. Dieser hatte nämlich am 20. Juli einen Entwurf mit dem Titel „500-Tage -Vertrauensmandat“ vorgelegt, das weit detaillierter war als das, was bis dato aus der Ryschkow-Administration gekommen war.

Um die Entwicklungen zwischen der Föderation und der Union nicht weiter auseinanderdriften zu lassen, blieb Gorbatschow gar nichts anderes übrig, als auf den Kurs seines Kontrahenten einzuschwenken. Anfang voriger Woche trafen sich beide Gruppen zwecks Feinabstimmung in Archangelskoje, die jedoch alles andere als eine Kompromißlösung zutage förderte. Die Abgründe scheinen unüberbrückbar. Auch der zweite Regierungsentwurf hält an einer administrativ verordneten Preiserhöhung fest, die einer späteren „Umwandlung in Marktpreise“ weichen soll. Das Gegenprojekt sieht eine völlige Freigabe der Preise vor, nur diejenigen für die lebensnotwendigsten Waren sollen während des Überganges zur Marktwirtschaft eingefroren werden. Um eine weitere Inflationssteigerung zu verhindern, lehnt sie finanzielle Kompensationen ab. Auch in der Frage der Privatisierung unterscheiden sich beide: Wollen die Regierungsvertreter einen langsamen Übergang, der dem Staat überall die Aktienmehrheit sichert, geht der andere Entwurf von einem sofortigen Verkauf der Anteile an die Bevölkerung aus. In der Finanzpolitik stehen sich ein Konzept maximaler Besteuerung und eines strikter Kontrolle der Staatsausgaben gegenüber, flankiert von einer Reform des Bankwesens und dem Versuch, den Verfall des Rubels aufzuhalten. Eine ganz entscheidende Differenz besteht darüberhinaus in der zukünftigen Bedeutung der Union: Ryschkow hält weiterhin an der uneingeschränkten Weisungsbefugnis des Zentrums fest. Damit dürfte sein Entwurf keine großen Erfolgsaussichten im Obersten Sowjet der UdSSR haben.

Letzte Woche hatte der stellvertretende Vorsitzende der RSFSR, Ruslan Chasbulatow, den Rücktritt der Regierung Ryschkow mit der Begründung gefordert: „Wenn die Regierung im Amt bleibt, wird das die Politik des Präsidenten destabilisieren und völlig diskreditieren“. Ryschkow kündigte aber an, für die Annahme des „eigenen Programms zu kämpfen“. Ob ihm das noch viel hilft, ist fraglich. Womöglich haben Gorbatschow und Jelzin in ihren jüngsten Gesprächen schon darüber entschieden