„Vor einem Jahr noch Reaktionär“

■ Friedensbewegte Rostocker und Bremer diskutierten über die deutsche Einheit

„Ich glaube, daß durch das Entstehen eines großen Deutschlands die Stabilität in Europa beeinträchtigt wird. Der Sozialismus, auch wenn er schlecht war, war immerhin etwas, woran man sich messen konnte, und sei's nur zur Beweisführung der eigenen Überlegenheit“, sagt der Rostocker Schriftsteller und Arzt Frank Weymann. In die Diskussionsrunde im zweiten Stock der Villa Ichon ist er eher zufällig geraten. Dort machten sich am 1. September Friedensbewegte aus Bremen und Rostock Gedanken über Chancen und Gefahren der deutschen Einheit, ihre Bedeutung für eine europäische Friedensordnung und die Rolle der humanistischen Linken.

„Was ich so erlebe in meinen Noch-Land ist, daß die Grenzen der Standorte jetzt sehr fließend sind“'versucht Rainer Hof, Mitglied des Neuen Forums, zu erklären. „Vor einem Jahr war ich noch Reaktionär. Dann, als wir

stark wurden, plötzlich links, und wo ich jetzt stehe, weiß ich nicht so genau. Für mich gibt es die humanistische Linke nicht mehr.“ Christoph Butterwegge vom Bremer Friedensforum möchte sich weiterhin als „irgendwie links“ bezeichnen, meint aber selbstkritisch, daß es sein größter Fehler gewesen sei, die deutsche Zweistaatlichkeit als Friedensgarantie zu begreifen. „Wir haben übersehen, daß ja gerade durch die Spaltung 1945 die Voraussetzungen für die Wiederaufrüstung in den 50er Jahren geschaffen wurden. Ohne Spaltung wären die Siegermächte damit nicht so schnell einverstanden gewesen.“ Deshalb seien die Chancen für eine europäische Friedensordnung durch die Vereinigung eher größer geworden.

Gefahren sehe er aber in einem wiederaufkeimenden Nationalgefühl. „Das sehe ich anders“, widerspricht Schriftsteller Wey mann. „Nationalismus wird doch

immer in Zeiten der Zerrüttung stärker, wenn Mangel herrscht. Je mehr Mangel, desto mehr Chancen hat auch der Nationalismus in Deutschland.“ Deshalb läge für ihn das Problem nicht in der Wiedervereinigung sondern in den Zerfallsprozessen Osteuropas.

Ein junger Mann kritisiert, daß bei dem Einigungsprozeß die Linke ganz an den Rand gedrückt wird. Was sei schon die jetzige Reduzierung angesichts der ständigen Modernisierung von Waffensystemen. „Die Macht in Deutschland und in Europa wird von Kräften gesteuert, auf die wir überhaupt keinen Einfluß mehr haben.“

Das versteht Mitdiskutant Heinz überhaupt nicht. Unterschriftenlisten für ein Deutschland ohne Bundeswehr kreisen um den runden Tisch. Für ihn ist die Zukunft der Friedensbewegung und des geeinten Deutschlands mehr als rosig. „Früher standen sich im

merhin über 700.000 Soldaten hier in Deutschland gegenüber, und die werden jetzt halbiert. Das ist doch eine sehr positive Entwicklung.“

Butterwegge betont noch einmal die Chancen, die aus der neuen Lage entstanden sind. Die Kritik, die oft geäußert werde, auch 370.000 Soldaten seien noch zu viel, könne er zwar unterschreiben, das führe aber nicht aus der Defensive heraus. „Wir machen uns doch völlig unglaubwürdig, wenn wir sagen, die Reduzierung auf 370.000 Soldaten sei für die Katz, wo wir doch jahrelang Forderungen in diese Richtung gestellt haben.“ Wichtig sei es jetzt, positive Ansätze, wie den von Wissenschaftssenator Scherf, zu unterstützen: „Scherf fordert als einen Zwischenschritt zur völligen Abschaffung der Armee, die Bundeswehr in eine Berufsarmee von 100.000 Mann umzuwandeln.“

Birgit Ziegenhagen