Ghetto Sister“ zwischen Angriff und Verteidigung

■ Die Geschichte von Ayse, 18 Jahre alt, verheiratet, Anführerin einer Kreuzberger Mädchengang

PORTRAIT

Es hätte natürlich alles anders kommen können. Ayse könnte heute die Volleyball-Mannschaft in der Schule anführen anstelle der „Ghetto Sisters“ in Kreuzberg. Aber da war der Vater, der seine Tochter jeden Tag Punkt fünf Uhr zu Hause wissen wollte - eine Regel, die notfalls mit Prügel durchgesetzt wurde. Also fing sie an Schule zu schwänzen, weil irgendwo ein bißchen Luft zwischen den Unterrichtsstunden im Klassenzimmer und der Enge der Kreuzberger Drei-Zimmer-Wohnung sein mußte, in der außer den Eltern, noch vier der sechs Kinder leben. Noch vor dem Hauptschulabschluß ist sie von der Schule geflogen. „Ich war da echt berüchtigt“, sagt sie stolz.

Vor vier Jahren hat sie mit 14 ihre erste Gang gegründet, lief im Outfit der „Rapper“ mit Jeans, Turnschuhen, einer schrillen Mütze und schweren Halsketten herum, und nannte ihre Clique „Türkische Mädchen Armeefraktion“. Nicht etwa aus Vorliebe für die RAF, wohl aber aus Sympathie für krasse Außenseiter - und für die Jungen, die sich schon vorher „Türkische Jungen Armeefraktion“ getauft hatten. Ayse ist seitdem der Boß, zumindest draußen. „Weil sie ist die Älteste und die Stärkste,“ sagen die anderen. 1,60 groß, zierlich, mit den obligatorisch weiten Jeans und den Turnschuhen. Das linke Auge ist zur Zeit etwas geschwollen und geht gerade von einer violetten in eine bläuliche Farbe über. Dazu ein freundliches, fast schüchternes Lächeln, das immer dann verschwindet, wenn Ayse gerade in eine „Auseinandersetzung“ verwickelt ist. „Auseinandersetzung“ gehört zu ihren Lieblingswörtern. Gemeint sind die Prügeleien zusammen mit den Jungs gegen die Skins, der Zoff mit anderen Gangs und mit Leuten, die ihr einfach in die Quere kommen. Bei Ayse ist die Grenze zwischen Verteidigung und Angriff fließend geworden. Nachher tut es ihr fast immer leid, und die Anzeigen wegen Körperverletzung oder Sachbeschädigung sind bislang alle eingestellt worden, aber sie weiß um die gesteigerte Aufmerksamkeit der Polizei für sie und die anderen Jugendlichen in den Gangs.

Auseinandersetzung - dazu gehören auch die Schläge zu Hause. Sie streicht mit zwei Fingern über den geschwollenen Augenbogen und die kahle Stelle an der Kopfseite. Vor drei Tagen hat sie ihr älterer Bruder auf dem U-Bahnhof mit ihren Kumpels aus der Geschwistergang erwischt, sie wutentbrannt nach Hause geprügelt und dort versucht, ihr den Kopf zu scheren. Vor ein paar Jahren gehörte er selbst zu „Simsekler“, der ersten Gang türkischer Jugendlicher. Die „Simsekler“ sind Ayses großes Vorbild. Und sie ist felsenfest davon überzeugt, daß ihr Bruder insgeheim stolz auf sie ist, auch wenn er sie manchmal als „Anführerin der Nutten“ beschimpft.

Die Gang oder Clique bedeutet viel. Unter ihrem Dach versammeln sich Sprayer und Hip-Hop-Fans. Manche komponieren sogar selbst Musik. Mit der Gang erlebt man Abenteuer. Andere Jugendliche unter anderen Umständen bauen sich Baumhütten oder fahren Wildwasserkanu. Die „Ghetto Sisters“ gehen S-Bahn-Surfen. Die Gang bedeutet Solidarität. Man besucht die anderen im Jugendknast, sammelt Geld für die Rechtsanwälte. „Das ist eben wie eine Familie“ sagt Ayse. Sie liebt beide Familien, die auf der Straße und die zu Hause trotz der Entfremdung zur Welt ihrer Eltern trotz Prügel von Vater und Bruder. Einen letzten Machtkampf hat die Familie noch einmal gewonnen - in aller Brutalität: Sie haben Ayse verheiratet. Ayse war seit ihrer Geburt einem Jungen aus dem türkischen Heimatdorf versprochen. Als sie dreizehn Jahre alt war, scheiterte der erste Verlobungsversuch, weil sie sich im Küchenschrank einschloß. Zwei Jahre später wurde die Zeremonie nachgeholt, vor einem halben Jahr fand die Hochzeit in der Türkei statt. Ayse zog noch einmal alle Register, weinte und drohte. Ihr Widerstand erregte den Argwohn, sie sei keine Jungfrau mehr. „Sie haben mir einfach nicht geglaubt“, sagt sie, „daß ich ihn hasse.“ Erspart blieb ihr letztlich nichts - auch nicht die Hochzeitsnacht, die sie nur mit einer Decke über ihrem Kopf ertragen hat. Vier Monate mußte sie bei der Familie ihres Mannes bleiben. Gegen seine Annäherungsversuche setzte sie sich mit Schlägen, schließlich sogar mit dem Brotmesser zur Wehr. Irgendwann ließ sie auch das über sich ergehen, „sonst hätten die mich gar nicht mehr nach Berlin gelassen.“ Zu Hause in Berlin hat sie angedroht, sich scheiden zu lassen. Der Vater warf sie daraufhin für drei Tage aus der Wohnung. Was in solchen Situationen bleibt, sind die FreundInnen aus den Gangs. „Da wird über Probleme geredet und eine Lösung gefunden.“ Die Lösung ist in diesem Fall klar: Sollte sich ihr Mann je in Berlin sehen lassen, wird sie endgültig von zu Hause abhauen.

Ayse ist jetzt achtzehn, die Perspektive bei den „Ghetto Sisters“ hält sie selbst nicht für sehr langfristig. Irgendwann, meint sie, wachse man da raus, „spätestens wenn du dich verliebst.“ Den Hauptschulabschluß hat sie inzwischen nachgeholt und manchmal träumt sie jetzt laut von ihrem Wunschberuf: Sozialarbeiterin. Möglich, daß sie ihren anderen Vorsatz schneller verwirklicht: Sie will Kickboxing lernen, „damit ich mich richtig verteidigen kann - vor allem gegen die Männer.“

Andrea Böhm