Ihr Ungeheuer! Ihr Menschen!

 ■ Nixen in Geschichte und Gegenwart, Literatur und Musik

Von Esther Röhr

Hier war es noch nicht Frühling, als aus Rio der Dernier cri der Strandmode gemeldet wurde: der Ökotanga - ein Bikini, geschneidert aus der Haut der Forelle, des Karpfens und der Seezunge, angetan zur Vollendung der „Badenixe“. Das schillernde Recycling-Produkt, das einen Mythos zu materialisieren scheint, inspirierte die 'FAZ‘ zu der Feststellung, daß selbst die Nachrichten der dpa „zuweilen etwas Elfenhaftes“ haben können: den betörenden Charme einer flüchtigen Gaukelei, der von jeher der Nixe anhängt wie ihr Fischschwanz.

Das Wasserweib, ein lang schon tradiertes, beliebtes Motiv der Volksdichtung ebenso wie der Weltliteratur und der bildenden Kunst, erfuhr in den achtziger Jahren eine marktgerechte Renaissance. Der euphorischen frauenbewegten Suche nach Restbeständen ursprünglicher Weiblichkeit antworteten bibliophile Anthologien, die neu zusammenstellten, was Polynesier, Brasilianer und Dänen sich einst vom Wasser zu berichten wußten, und was die Fantasie ganzer Dichtergenerationen, besonders in unserem Kulturkreis, nachhaltig bestürmte.

Die Nixe hielt Einzug in die Kinos, war Titelmädchen des 'Stern‘, und die Fluggesellschaft Condor lockte mit ihr an ferne Gestade - dorthin also, wo alljährlich die wasserbenetzt bräunenden Menschenfrauen sich mühen, wenigstens ihre Silhouette derjenigen der Dame ohne Unterleib anzugleichen: Wenn in anmutiger Seitenlage sich ein Bein sacht vor das andere schiebt, die Knie eng geschlossen bleiben und die Füße sich kreuzweis aneinanderschmiegen, wird die Fischhaut beinahe überflüssig.

Jede Frau eine Nixe? Der Arzt Paracelsus, der zu Anfang des 16. Jahrhunderts in seinem Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris die Geister des Wassers, der Luft, der Erde und des Feuers mit geradezu zärtlicher Sorgfalt katalogisierte, wußte genau, daß sich das Nymphengeschlecht von den Nachkommen Adams kaum unterschied: „dan sie seind alweg wie die menschen, alein on sel“.

Für Paracelsus war die glückhafte Seelenlosigkeit der Geisterwelt nur ein kleines Manko, das er zudem gern dazu nutzte, die Pfaffen zu reizen. Was den Kirchendienern als „Teufelswerk“ galt, beanspruchte der kämpferische Gelehrte geradeheraus als göttliches Mysterium - nicht ohne kratzig kundzutun, daß es „seliger ist, zu beschreiben die nymphen, dan zu beschreiben die orden“.

Im folgenden blieb das gewagte Unterfangen, die naßkalten Geister „on sel“ dennoch mit Liebreiz, Grazie und gewisser Gotteskindschaft auszustatten, das changierende Spannungsfeld der Nixenliteratur. Vor allem Friedrich de la Motte-Fouques Erzählung Undine aus dem Jahr 1809, die der Nixe - und auch dem Autor selbst - zu andauernder Prominenz verhalf, scheint unsicher im Urteil darüber zu schwanken, wozu denn nun die Seele hilfreich sei und wem. Unter solch anarchische Tendenzen zog erst der Märchen -Pädagoge Hans Christian Andersen einen gestrengen Schlußstrich: Durfte Fouques Undine sich noch unschuldig keck und hinreißend über gute Christenmenschen belustigen, mußte seine „kleine Meerjungfrau“ vorbildlich gern und auf Messersschneiden ihrer tränenreichen Läuterung entgegenwandeln.

Es ist ein widersprüchliches Axiom, das in vielen - und vor allem: in den populär gewordenen - Hymnen auf die Nixe verborgen liegt: daß nämlich jene, die keine Seele besitzen, dringend nach einer verlangen und unter Umständen auch bereit sind, die Zeitlosigkeit ihres unbeschwert fröhlichen Treibens und Tändelns daranzugeben, nur um rasch menschengleich-sterblich und sodann unsterblich-erlöst zu werden. Die Natur ist niemals mit sich selbst zufrieden.

Die Technik der Beseelung erklärt, warum dem männlichen Anteil der Wasserleute nie eine rechte Aufmerksamkeit geschenkt wurde: Nur die Töchter der Meere und Seen sind in der Lage, von einem sozusagen überschießenden Potential an menschlich-männlicher Beseeltheit zu profitieren und sich zu diesem Zweck in tragische Liebesgeschichten zu verwickeln. Daß die Seele - genaugenommen - den Weg der Spermatozoen nimmt oder gar mit ihnen identisch ist, verschafft dem Mann ( nicht nur innerhalb der Fiktion) eine wunderbar gleichnishafte Gottähnlichkeit. Gegen die Frau ist bis ins 20. Jahrhundert hinein der Verdacht erhoben, auch ihr nymphomanes Gebaren sei in Wahrheit nichts anderes als die schmeichelnde Verführungskunst der Meermädchen: Seelenklau.

Die Nixe mit dem - unzugänglichen - Fischschwanz ist daher eigentlich ein Kalauer, ein Herrenabendwitz, in dem der Fischer, schon über seinen spektakulären Fang gebeugt, verblüfft erkennen muß, daß er mit ihm gar nichts anfangen kann. Tatsächlich: Nur die triviale Nixe trägt Schuppen. Jene Nixe der schönen (und ernsten) Literatur hingegen sind selten solcherart behindert - und nicht einmal an Gewässer gebunden. So kann selbst Effi Briest als Nixe gelten: Noch fern von Ehe, Ehebruch und Tod ließ Fontane sie - erhitzt vom Spiel und mit zerzaustem Haar - im Matrosenkleidchen vor ihren Freier treten.

Hedonistisch und doch glücklos, amoralisch, doch nicht böse, unschuldig und schön, schön, schön, finden sich Undinen überall da, wo der verderbliche Lockruf einer Frau ein Engelsgesang ist, hell und heilig. Ob zu Wasser, ob zu Lande: Daß Undine, ehe sie selbst klaglos vergeht wie ein Trugbild, auch den Geliebten mit ins Unglück reißt, ist Natur, nicht Verfehlung, und niemand konnte daher dem so sanften wie wilden Geschöpf je etwas ernsthaft übelnehmen. Weder Femme fatale noch Kindfrau, und doch die Reize beider in sich vereinend, ist Undine die Königin literarischer Symphatieträgerinnen. Mit und ohne Seele, die ohnehin nicht verhindern kann, daß Frauen Frauen bleiben - nämlich Nixen, durchströmt von allerlei Unkultiviertem.

Immer schon war es naheliegend, die zaubrige Nixe auch als Widerspruchs-Geist zu handeln. Für Paracelsus mußte sie gegen die Frömmelei einstehen, für die Romantiker gegen Ratio und Pragmatik, für einen sensiblen Zyniker wie Oscar Wilde gegen all dieses und eigentlich gegen die ganze Welt. Mehr noch: Für Wilde war nicht der Mangel der Wasserwelt, sondern - frech - die Seele seines Helden der entscheidende Störfaktor eines Liebesglücks, das folgerichtig nicht, wie sonst, die Nixe an Land, sondern den verknallten Fischer unter Wasser ziehen sollte. Ungekannte Seligkeit erwartet den, der seiner Seele Lebwohl sagt und damit auch jenem Tand den Abschied gibt, der beim Volk der bodenständigen Langweiler als wahr, gut und - jämmerlich! - schön gilt.

Henze: Undine aus Stahl und Seide

Ist die Nixe eine Zivilisationskritikerin? Als Hans Werner Henze begann, für das Londoner Royal Ballet eine neuerliche Undine-Musik zu komponieren, stellte auch er sich die Frage, was die zarteste aller Traumfiguren 1958 noch in einer modernen (und vordem zerstörten) Großstadt zu suchen habe, und vor allem: in einem „modernen Gehirn“. Undine in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - das war „Stahl und Seide“. Ein poetischer Kontrast also. Einer, der den „Stahl“ gut kleidet? Ein Flirt vielleicht?

Die Fouquesche Erzählung, die Goethe „wirklich allerliebst“ genannt hatte, die Edgar Allan Poe in Superlativen bejubelte und der selbst ein Heinrich Heine erlag, die wiederholt schon als Oper und Ballett auf die Bühnen gelangt war, wurde auch Henze zur Vorlage - und zum Faszinosum. In seinem Arbeitsjournal ist nachzulesen, wie gar das Buch Undine die Anverwandlung sucht, wenn das Wasser ruft. Zum Strand von Ischia getragen, schlagen taube Seiten Wellen, werden sandig, salzig.

Obwohl Henze erwog, ob es nicht vielmehr „der Wunsch des Menschenwesens ist, der sie heraufbeschwört“, als daß die Nixe sich nach Existenz und Land sehnt (warum auch?), widerstand er doch nicht der Versuchung, dem fiktionalen „Geistchen“ zu eigentümlicher Realität zu verhelfen. War es nicht Wirklichkeit, daß die Primaballerina - es ist die gefeierte Margot Fonteyn - „dieses schwebende Wunder“, „die Krone der Schöpfung“, „die assoluta“, sich auch jenseits der Bühne zur Undine entgrenzte? „Polizisten bilden mühsam eine Gasse für die wenigen Schritte vom Bühneneingang zum Taxi, das mit laufendem Motor die zarte bleiche Dame mit den zu großen Augen erwartet, um dann gleich mit ihr in den Nebel zu entgleiten.“ Ein Taxi, eine Nixe. Nebel. „Stahl und Seide“? - Und war es nicht sinnfälliges Mirakel, daß Miß Frampton, eine Tänzerin vergangener Zeit, als Undine paradox! - den Feuertod starb, da ihr Tutu sich an einer Gaslampe entzündet hatte? Feuer und Wasser... Sind die Nixen unter uns?

Als Ingeborg Bachmann, nachdem sie drei Wochen lang mit schweren Verbrennungen in einem römischen Krankenhaus gelegen hatte, am 17. Oktober 1973 starb, reagierten die Feuilletons mit hilfloser Bestürzung. Beklommen erinnerte man sich all der grausigen Feuer-Metaphern in Bachmanns Werk, und wie verabredet nahm man - paradox - Rekurs auf die lyrischste Erzählung der wortwütigen Autorin, der man den Austritt aus der Lyrik nie vergeben hatte: Undine geht. „Undine ist gegangen“, hieß es nun in den Nachrufen, „Eine Undine aus Klagenfurt“, und wiederum: „Undine geht“. - Feuer und Wasser. Die Bachmann als „Geistchen“?

„Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer!“ begann die scharfe, einsame Abrechnung einer noch nicht gehörten Undine und setzte sich fort und fort: „Ihr Ungeheur mit euren Redensarten!“, „Ihr Monstren!“, „Verräter!“ Erstmals war der Nixe selbst eine Stimme verliehen, doch sie sang nicht mehr zierlich. Bachmanns Undine hat ihre tödliche Rolle satt: gefürchtet, gerufen, verscheucht, geopfert - „Hat mein Blut geschmeckt?“ Es ist, als umkreiste bereits diese frühe Erzählung, erbarmungslos und qualvoll wie erst wieder der Todesarten-Zyklus, Bachmanns berühmt gewordener Satz „Alle Männer sind krank“ („Finden Sie nicht?“, fragte sie und lachte ihr Lachen, trotz Kamera). Krank - vor Sehnsucht?

„Ihr Ungeheur mit Namen Hans! (...) Ja, diese Logik habe ich gelernt, daß einer Hans heißen muß, daß ihr alle so heißt, einer wie der andere, aber doch nur einer. (...) Ihr Monstren mit den festen und unruhigen Händen, mit den kurzen blassen Nägeln, den zerschürften Nägeln mit schwarzen Rändern, den weißen Manschetten um die Handgelenke, den ausgefransten Pullovern, den uniformen grauen Anzügen, den groben Lederjacken und den losen Sommerhemden! Aber laßt mich genau sein, ihr Ungeheuer, und euch jetzt einmal verächtlich machen, denn ich werde nicht wiederkommen, euren Winken nicht mehr folgen, keiner Einladung zu einem Glas Wein (...)“

Undine geht, von Christa Reinig einmal ein „Jahrhunderttext“ genannt, erschien 1961 - drei Jahre nach jener Uraufführung des Royal Ballet, die der Bachmann-Freund Hans Werner Henze vom Orchesterraum aus verfolgte. War's nicht das von Henze zu letzter Prägnanz verdichtete „Rufsignal“ der Undine, das Ingeborg Bachmann hart bespottete? Kam denn der „Schmerzton“, die „Windfanfare“, je an gegen trautes Radiogeplärr, gegen kluge Reden und „moderne Gehirne“? Sollte er denn? Alles Lüge. - „Ihr Ungeheuer mit Namen Hans?“

Von vielfach mißverstandenen Deutungen und allzu schlauen Journalistenfragen in die Enge getrieben, verwahrte sich Ingeborg Bachmann 1964 ein für alle Mal gegen den indiskreten Verdacht, ihre Undine sei beredtes Selbstporträt, und flüchtete in ein Zitat. Undine sei „die Kunst, ach die Kunst“, der Kontrapunkt einer durchnutzten Welt, und doch und gerade von ihr mißbraucht. Sonst nichts, bitte schön.

Auch Hans Werner Henze hatte preisgegeben, seine Undine sei die Kunst, sei nicht zu fassen, alterslos, sei Irrlicht und Verlockung, sei wie Musik und sei - Natur. Natur? Henzes Wankelmut mag in Undine selbst begründet sein. Angefüllt mit „unnennbaren Eigenschaften“ ist sie bald dies, bald jenes, und Ingeborg Bachmann war es, die unbezweifelbar erkannte, was eine rechte Nixe ausmacht, und was ihr schließlich immer den Knockout verschaffte: „Wasser und Schleier und was sich nicht festlegen läßt“ - „Gefahr“.

„Doch vergeßt nicht, daß ihr mich gerufen habt in die Welt, daß euch geträumt hat von mir, der anderen, dem anderen (...)“ - Geschlecht?

Es hieß, Ingeborg Bachmanns Erzählung sei der „Abschied von allen Undine-Geschichten“. Natürlich war sie es nicht. In ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen sprach Ingeborg Bachmann 1959/60 über die „mysteriöse“ Kraft der Namen, darüber, daß „nicht einmal die Unkenntnis der Werke das triumphierende Vorhandensein von Lulu und Undine, von Emma Bovary und Anna Karenina verhindert“. Undine triumphiert. Obwohl in einer beispiellosen Demontage aus ihren Pflichten entlassen, wirbt sie dieser Tage für Cointreau und btx (mit Fischschwanz). Ist es Mode, Nixe zu sein?

Yvan Goll, der die hintergründige Posse Melusine um 1920 seiner Claire widmete, scheint diesen Argwohn gehegt zu haben. Begleiten wir Golls Helden Oleander, einen Immobilienmakler, und seine Nixen-Gattin auf einen Empfang:

Oleander: Du hättest aber doch ein anderes Kleid anziehen können!

Melusine: Warum? Findest du dieses nicht schön?

Oleander: Du kompromittierst mich damit!

Melusine: Es ist ja gar nicht ausgeschnitten.

Oleander: Oben geht es ... aber unten! Da steht der Bürgermeister. Was für einen Blick er uns zugeworfen hat! Was wird er von uns denken?

Melusine: Wahrscheinlich gefalle ich ihm.

Oleander: Einen Fischschwanz anzuziehen!

Melusine: Das ist die letzte Pariser Mode!

Oleander: In Paris gibt es genügend Kokotten, bei denen es ganz gleich ist, was sie anziehen oder ob sie überhaupt nichts anziehen. Aber denke daran, daß du Madame Oleander bist!

Melusine: Im nächsten Winter wird es überhaupt kein Kleid mehr ohne eine solche Schleppe geben.

Oleander: Dann hättest du solange warten können, bis man sich daran gewöhnt hat. Es ist schrecklich, wie die Leute uns anstarren.

Vierte Dame: Selbst zum Fasching würde ich so etwas nicht tragen!

Vierter Herr: Das würde auch niemand von dir verlangen.

Vierte Dame: Dir gefällt so etwas natürlich!

Erste Dame: Die Männer recken sich die Hälse nach ihr aus.

Muß die Hoffnung der Frauen, im offenen Meer auf ein Weibs -Bild zu treffen, das seinesgleichen sucht, als kanalisiert betrachtet werden?

Die 'Süddeutsche Zeitung‘ berichtete kürzlich über einen neuen Trend der Haute Couture. Die dazugehörige Aufnahme zeigt eine Abendrobe, die Yvan Golls Vision so vollkommen wiedergibt, als sei sie aus einem Theaterfundus entwendet worden. Ist es Schleppe, ist es Fischschwanz, was auf nassen Felsen ruht?

Belauschen wir Golls Melusine noch für einen Moment diesmal mit ihrem Gastgeber:

Melusine: Brutal bist du. Du hast mir meinen Fischschwanz ausgerissen.

Graf: Ausgerissen? Du tust, als ob er angewachsen wäre. Ich habe dir doch nur dein Kleid ausgezogen ...

Melusine: Es war aber angewachsen. Du hast mir sehr weh getan.

Graf: Ich habe eine Frau aus dir gemacht.

Melusine: Das ist mein Fluch!

Die Textilbranche empfiehlt dennoch: „Sirenen von heute becircen mit Modellen aus Viscose.“