Der Tag der rasenden Franzosen

■ Französischer Weltrekord in der 4x100-Meter-Staffel, britischer Europarekord über 4x400, ein fliegender Jugoslawe und Geplänkel am Diskus zum Abschluß der Leichtathletik-EM

Aus Split Michaela Schießl

Der Oberschiedsrichter war der Anfang vom Ende: grazil hoppelnd führte er die fahnenschwingende Polonaise aus Ordnern, Sportlern, Funktionären und Honoratioren Richtung Ausgang und erklärte damit die 15. Europameisterschaften der Leichtathletik für beendet. 50.000 Zuschauer in Split tobten in bester Laune auf der pathetischen Abschlußfeier, zumal der Tag endlich die langersehnte Dramatik erbracht hatte.

Den sensationellen Hit des Tages landeten zweifellos die rasenden Franzosen. Sich solidarisch alle hundert Meter abwechselnd, fegten Max Moriniere, Daniel Sangouma, Jean -Charles Trouabal und Bruno Marie-Rose vor den staunenden Briten (Braithwaite, Regis, Adam, Christie) in 37,79 Sekunden über die Rundbahn. Carl Lewis wird die Kinnlade ein Stockwerk tiefer gerutscht sein - seit Monaten versucht „der Große“ mit seinen Santa-Monica-Vasallen das Weltrekord -Kunststück. Die Briten revanchierten sich Minuten später über 4x400 Meter, als Sanders, Akabusi, Regis und Black den Europarekord gleich um sechs Zehntel- und vier Hundertstelsekunden auf 2:58,22 Minuten herunterschraubten. Ungewöhnliches gab es dahinter: die BRD-Jungs Klaus Just, Edgar Itt, Carsten Köhrbrück und Norbert Dobeleit überquerten die Ziellinie als zweite und vor allem vor der DDR-Staffel.

Doch wer die meist einheimischen Zuschauer annhähernd zum Kollabieren brachte, war die zwanzigjährige Jugoslawin Snezana Pajkic: als Vierte des 1.500-m-Laufes bog sie auf die Zielgerade, 50.000 Schreihälse standen auf den Stühlen, ohrenbetäubender Lärm. Die solcherart Angebrüllte beeilte sich, das Geschrei abzustellen und lief flugs an Ellen Kießling (DDR) und Sandra Gasser (Schweiz) vorbei ins Ziel und direkt in die Arme des ebenfalls jugoslawischen Hochspringers Dragotin Topic. „Yugoslawia, Yugoslawia“ tönte es von den Tribünen, was Topic, der vor einigen Wochen mit 2,37m Junioren-Weltmeister wurde, wieder an seinen Auftrag erinnerte - Parole: Medaille.

Eine durchaus lösbare Aufgabe, denn mit Ausnahme von Dietmar Mögenburg fehlte die europäische Hochsprungelite. Patrick Sjöberg (Schweden), Sorin Matei (Rumänien) und Rudolf Powarnitsin (UdSSR) mußten wegen Verletzung fernbleiben und Hallen-Weltrekordler Carlo Thränhardt entzog den Zuschauern seinen betörend aus der Hose zuckenden Hinternmuskel, indem er bei der Qualifikation an 2,24 Meter scheiterte. Und das, obgleich das 33jährige enfant terrible die Anforderungen von DLV-Vizepräsident Moltke nach „frechen Sportlern, die auch mal ein Bier trinken“, zweihundertprozentig erfüllt, wenn er mit Boris Becker die Piste Monacos unsicher macht. Mögenburgs Erklärung: „Carlo wird alt“.

Auch für Mögenburg, den haushohen Favoriten und Olympiasieger von Los Angeles, wurde Split zum Flop. Während des Einspringens verletzte er sich beim Heruntersteigen von der Matte an der Sehne des rechten Knies. Zwei Spritzen befreiten ihn vom Schmerz, „doch ich hatte überhaupt keinen Druck mehr auf dem Sprungbein“. Trotzdem versuchte er es: „Überheblich gesagt, bei meiner Klasse kann man sich das leisten.“ Bei 2,28 stieg er ein und überquerte die Latte im ersten Versuch. Selbiges drei Zentimeter höher. Bei 2,34 spielte das Knie nicht mehr mit. Er riß zweimal, ging auf die 2,36 und scheiterte. „Noch nie war es so einfach, einen EM-Titel zu kriegen. Dann eben nächstes Jahr bei der WM in Tokio“, sagte Mögenburg abschließend. „Nach Barcelona höre ich aber auf.“ Dann bleibt er auf dem Boden, um das Geld für Frau und Kind als Sportjournalist ranzuschaffen.

So konnte das Gastgeberland eine zweite Goldmedaille feiern. Topic, der erstaunlich selbstbewußt das ohnehin lärmende Publikum zu lauten Ovationen anstachelte, gewann mit 2,34. 2,36 und 2,38 waren für den Kurzgeschorenen schließlich zu hoch. Den Hochsprung gewinnt man immer als Verlierer.

Verliererverdächtig war lange Zeit der Diskuswerfer Jürgen Schult aus Schwerin. Nach fünf gewaltigen Rotationen lag er an vierter Stelle. Doch beim letzten Versuch wirbelte der Bär seine 214 Pfund direkt hinter die Scheibe, die arg mitgenommen bei 64,58 landete. Sieg vor dem Holländer de Bruin und Schults Erzfeind Wolfgang Schmidt. Man erinnere sich: 1988 in Düsseldorf verweigerte Schult beim ersten deutsch-deutschen Länderkampf dem DDR-Flüchtling Schmidt die Hand. Die Siegerehrung in Split versprach also delikat zu werden.

Doch diesmal packte Schult die hingehaltene Pranke von Schmidt. Dessen Kommentar beim Abspielen der Nationalhymne: „Es kotzt mich an, daß ich das nochmal hören muß.“ Der Sieger trocken: „C'est la vie.“ Und in der Pressekonferenz schlug Schult zurück. Kontakt mit Flüchtlingen war in der DDR bekanntlich verboten. „Schmidt wußte genau, was er mir damals antat. Er war früher selbst in der Stasi und SED -Genosse und hat sich verwöhnen lassen. Und mich später als den bösen Buben hingestellt. Auch jetzt hat er mir erst gratuliert, als das Fernsehen dabei war.“ So geriet die Inszenierung Schmidts nachträglich in den Verdacht, nichts anderes gewesen zu sein, als ein Mittel, den Konkurrenten zu diskreditieren und zu demoralisieren. Vergebens, wie der sechste Durchgang von Split bewies.

Frauen, Siebenkampf: 1. Sabine Braun (BRD) 6.688 Punkte, 2. Heike Tischler (DDR) 6.572, 3. Peggy Beer (DDR) 6.531

400 m Hürden: 1. Tatjana Ledowskaja (URS) 53,62 Sekunden, 2. Anita Protti (SUI) 54,36; 3. Monica Westen (SWE) 54,71

10.000 m: 1. Jelena Romanowa (URS) 31:46,83 Minuten, 2. Kathrin Ullrich (DDR) 31:47,70, 3. Annette Sergent (FRA) 31:51,68

Hochsprung: 1. Heike Henkel (BRD) 1,99 m, 2. Biljana Petrovic (YUG) 1,96; 3. Jelena Jelesina (URS) 1,96

1.500 m: 1. Snezana Pajkic (YUG) 4:08,12 Min., 2. Ellen Kießling (DDR) 4:08,67; 3. Sandra Gasser (SUI) 4:08,89

4x100 m: 1. DDR (Möller, Krabbe, Behrendt, Günther) 41,68 Sekunden; 2. BRD (Lippe, Sarvari, Thomas, Knoll) 43,02; 3. Großbritannien 43,32

4x400 m: 1. DDR (Derr, Hesselbarth, Schersing, Breuer) 3:21,02 Min.; 2. UdSSR 3:23,34; 3. Großbritannien 3:24,78

Männer, Hammerwurf: 1. Igor Astapkowich (URS) 84,14 Meter; 2. Tibor Gecsek (HUN) 80,14; 3. Igor Nikulin (URS) 80,02

110 m Hürden: 1. Colin Jackson (GBR) 13,18 Sekunden; 2. Tonny Jarrett (GBR) 13.21; 3. Dietmar Koszewski (BRD) 13,50

Hochsprung: 1. Dragotin Topic (YUG) 2,34 Meter; 2. Aleksej Jemelin (URS) 2,34; 3. Georgi Dakow (BUL) 2,34

5.000 m: 1. Salvatore Antibo (ITA) 13:22,00 Min.; 2. Gary Staines (GBR) 13:22,45; 3. Slawomir Majusak (POL) 13:22,92

Diskus: 1. Jürgen Schult (DDR) 64,58 m; 2. Erik de Bruin (NED) 64,46; 3. Wolfgang Schmidt (BRD) 64,10

Marathon: 1. Gelindo Bordin (ITA) 2:14:02 Stunden; 2. Pier-Giovanni Poli (ITA) 2:14:55; 3. Dominique Chauvelier (FRA) 2:15:20

1.500 m: 1. Jens-Peter Herold (DDR) 3:38,25 Min.; 2. Gennaro Di Napoli (ITA) 3:38,60; 3. Mario Silva (POR) 3:38,73

4 x 100 m: 1. Frankreich 37,79 Sekunden; 2. Großbritannien 37,98; 3. Italien 38,39

4 x 400 m: 1. Großbritannien 2:58,22 Min.; 2. BRD 3:00,64; 3. DDR 3:01,51