Jens Reich: „Was uns trennt“

■ Aus der Rede des Volkskammer-Abgeordneten Jens Reich („Demokratie Jetzt“) auf dem Bonner Kongreß „Grüne im Umbruch“

DOKUMENTATION

Was uns trennt, ist natürlich die Vorgeschichte. Das Bewußtsein der erlebten Vergangenheit. Wir bemerken erst jetzt, nach der Vereinigung, wie verschieden unsere Lebens und Erfahrungswelten sind. Dies war früher überdeckt, weil wir viele politische Stereotype von den westlichen Alternativen übernommen hatten. Aber eine feministische Forderung zum Beispiel war im real existierenden Sozialismus etwas völlig anderes als in der real existierenden Marktwirtschaft, die wir nur von den Bildrastern des Fernsehens kannten. Erst jetzt erkennen wir die Verschiedenheiten, und wir müsssen sie aussprechen und nicht einfach mit dem Kleister überstreichen, den uns Lothar und Helmutia aufdrängen. (...)

Was uns noch trennt, sind unsere politischen Erfolge und Mißerfolge. Ihr hier im Westen habt keinen einzigen wirklichen Sieg errungen. Mit stets aussitzfester Toleranz hat man euch ins Abseits, in den Hyde-Park verwiesen, wo ihr meckern, aber keinen Schaden anrichen konntet. Und doch habt ihr wie ein Schimmelpilzrasen die ganze Gesellschaft durchwachsen mit dem ökologischen Bewußtsein des drohenden Desasters. Und mit eurer kritisch-spontanen gesellschaftlichen und politischen Kultur.

Und wir? Vom Durchsaften der Gesellschaft mit unseren Umgangsformen und unseren Gewißheiten haben wir nur geträumt. Es war eine Fata Morgana. Je pompöser heutzutage der Plastikbecher für die paar Löffel Joghurt mit Erdbeerchemie ist, desto sicherer wird er gekauft. (...)

Jens Reich zitierte aus einem Flugblatt des Oktober 89 die Forderungen nach bürgerlicher Freiheit, Freizügigkeit und Demokratie, die alle erfüllt sind, und fährt fort: Nichts zeigt deutlicher als diese schmucklose Aufzählung, welchen unwahrscheinlichen Erfolg wir hatten, wie sehr aber auch die Zeit über uns hinweggegangen ist. Als erste stemmten wir uns gegen das verrammelte Tor. Das Schloß gab nach, das Tor ging auf, wir stürzten der Länge nach hin, während die Nachfolgenden uns überrannten, neuen Zielen zu, die wir nicht mehr aussuchen konnten.

Wir stellten Forderungen auf, die damals jeder unterschrieb. Sie sollten die DDR in die Glasnost -Perestroika führen. Wir merkten dabei nicht, daß ihre Erfüllung die DDR selbst abschaffen würde. Und bis heute sind wir uns einig, daß das Ziel richtig war, sind aber gespalten in die, die den zweiten deutschen Staat erhalten und reformieren wollten und diejenigen, denen es recht war, wenn er abgeschafft wurde. Noch in diesen Tagen stimmte ein Teil der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne für den bedingungslosen Beitritt am 3. Oktober, während ein anderer Teil dagegen stimmte und den zur Illusion gewordenen Vorbedingungen für eine gleichberechtigte Vereinigung die Treue hielt. Dabei haben wir den Gleichklang mit der Stimmung des Volkes verloren. In ihrer mürrischen Verdrossenheit setzen sie uns alle gleich, bis hin zur CDU und DSU. (...) Damals waren wir eine Alternative zu den Herrschenden, jetzt nicht. Wir sollten uns da keinen Illusionen hingeben. (...)