Orientieren an der Farbe der U-Bahn

■ 30.000 AnalphabetInnen in West-Berlin trotz jahrelangen Schulbesuchs / GrundschullehrerInnen sind nicht ausreichend für langsamer lernende Kinder ausgebildet / Heute Tag der offenen Tür beim AOB

West-Berlin. 30.000 erwachsene AnalphabetInnen gibt es nach Angaben des Arbeitskreises Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB) in West-Berlin. Und das, obwohl sie fast alle sieben bis acht Jahre Schule hinter sich haben. Die Zahl errechnet sich nach einem Schlüssel der Unesco. 0,7 bis 3 Prozent der Bevölkerung in Industrienationen können demnach nicht lesen und schreiben.

Das Dilemma beginnt in der Schule. Kinder, die nicht bereits im ersten Schuljahr den Sinn und Zusammenhang von Buchstaben erfassen, lernen es in der Regel nicht mehr. Oft werden sie durch die Schuljahre mitgeschleift oder in eine Sonderschule „abgeschoben“. Und auch dort wird nicht gezielt auf die speziellen Schwächen der einzelnen SchülerInnen eingegangen. GrundschullehrerInnen sind meist mit der Situation überfordert. Das gezielte Vermitteln von lesen und schreiben wird ihnen in der Ausbildung nicht beigebracht. „Es wird davon ausgegangen, daß jeder, der liest und schreibt, es auch anderen beibringen kann“, sagt Helga Rübsamen, Kursleiterin beim AOB. Die LehrerInnen können nicht beurteilen, ob die visuelle und akustische Wahrnehmung eines Kindes schon für das Erlernen des Lesens und Schreibens ausreicht. Umstrukturierungen in Unterricht und Ausbildung scheiterten bisher am starren Verwaltungsapparat und der Eitelkeit der Verantworlichen, so Rübsamen. Schulen und Lehrer verschweigen lieber, daß es SchülerInnen gibt, die den Unterricht als AnalphabetInnen verlassen.

Menschen, die nicht lesen und schreiben können, sind keineswegs „dumm“. Das beweist vor allem, mit welcher Geschicklichkeit sie sich mit dem Analphabetismus arrangieren. „Um sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden“, sagt Rübsamen, „beobachten sie sehr genau.“ Der U-Bahnhof wird nicht an seinem Namen, sondern an der Farbe der Kacheln erkannt. Und beim Weg zur Arbeit orientieren sie sich zum Beispiel an den Kneipen der Straßenecken. „Der Bewegungsradius bleibt allerdings gering“, so Rübsamen. Kinder tricksen oft Eltern und Lehrer aus, indem sie sich Texte vorlesen lassen und dann auswendig aufsagen. Bei den Dingen, die ohne lesen und schreiben nicht zu machen sind, springen Freunde oder Verwandte ein.

Der AOB veranstaltet heute anläßlich des Internationalen Jahres der Alphabetisierung 1990 einen Tag der offenen Tür in seinen Räumen im Mehringhof. „Es geht uns auch um die Alphabeten“, sagt Helga Rübsamen. Nur durch Verständnis kann die Stigmatisierung von AnalphabetInnen verringert werden. Erst wenn sie die Hemmschwelle überwunden haben, können sie dazu stehen, daß sie als Erwachsene nicht lesen und schreiben können und sich zu einem Kurs anmelden. Die Kurse beim AOB sind kostenlos und beginnen alle zwei Monate.

Christel Blanke