Quo vadis, Visum?

■ Verwirrung um Einführung der Visumpflicht für polnische Berlinbesucher / Grenztruppen kontrollieren großzügiger als dem Innenminister recht ist

Charlottenburg. Zur Zeit kann auf Berlins multikultureller Meile, der Kantstraße, auch der wieder bequem einen Passanten nach der Uhrzeit fragen, der sich in den Sprachen ostwärts der Elbe nicht so gut auskennt. Grund ist das alte neue Gerücht, daß Polen zum Eintritt in den von Warschau am nächsten gelegenen Aldi-Standort (deutsche Miefigkeit, wir hörn dir trapsen; d.Korr.) West-Berlin Visa benötigten. Deswegen hat die Zahl der polnischen Besucher letztlich abgenommen. Bis heute hat sich das Gerücht jedoch nicht bestätigt.

Wahr ist aber, daß die Grenztruppen der DDR mit Wirkung vom 31. August die Order bekommen haben, Auge in Auge mit den Durchreise begehrenden ehemaligen Leidensgenossen aus den früheren Bruderländern den Touristen vom unerwünschten „Handlungsreisenden“ zu unterscheiden. Letzteren sollte die Weiterfahrt zur ehemaligen Insel im Roten Meer dann verweigert werden.

Die - vor allem polnischen - Besucher, die die taz gestern befragte, hatten an der Grenze aber nur sehr belanglose Kontrollen erlebt, die sich wenig von den schon bekannten unterschieden. Ein Grund dafür könnte sein, daß es zu Diskrepanzen zwischen den Grenztruppen, die dem Ministerium von Pfarrer Eppelmann unterstehen, und dem verdiestelten Innenministerium, auf dessen Anweisung die schärferen Kontrollen beruhen, gekommen ist. Vielleicht wollen die alten DDR-Bewacher nicht schon wieder als „Schließer“ mitten in Europa stehen. Sicher ist jedoch, daß bis heute an der polnisch-deutschen Grenze zwar viel kontrolliert, aber wenig zurückgeschickt wird.

Auf den Einkaufsstraßen der Hauptstadt von übermorgen haben die DDRler schon längst die absolute Mehrheit erreicht. Nur beim inoffiziellen Nahrungsmittellieferanten der Republik Polen (traps, traps, traps...), den Aldi-Läden, wird weiterhin mehr polnisch gesprochen. In der Filiale am Bahnhof Zoo standen auch gestern morgen rund 400 Osteuropäer. „Jenau wie jeden Morgen“, wie ein Mitarbeiter versicherte. „Von weniger Polen hab‘ ick noch nischt jemerkt.“ In den Import-Export-Läden, die viel stärker abhängig von der osteuropäischen Kundschaft sind, sieht man die Lage schon skeptischer. „Ja, es sind deutlich weniger geworden“, klagt ein Verkäufer des „Tax Free Elektronikshops“ in der Kantstraße. Auch andere Betreiber solcher Geschäfte beunruhigt das Wegbleiben der Billigsteinkäufer. Aber daß die Visumpflicht, sollte sie denn kommen, auch für einen Tag gelten soll, kann sich mancher gar nicht vorstellen. „Und wenn, dann müssen wir uns eben was einfallen lassen“, wie einer der Besitzer laut überlegt.

Aber noch gilt für West-Berlin die alliierte Anweisung, daß alle Ostblockbürger 31 Tage lang visumfrei nach West-Berlin dürfen, egal wieviel Packete Mamba Kaubonbon und Karlsquell Edelpils (dito) sie nachher in ihren überladenen Taschen und Autos nach Hause schleppen. Und was wer warum in einem der bis an den Rand gefüllten Busse mit nach West-Berlin einführen will, dürfte den Grenztruppen der Noch-DDR zuviel Kopfzerbrechen machen. Am Bahnhof Zoo, wo es am Bankschalter für 100 polnische Zloty einen ganzen deutschen Pfennig gibt, stehen die Busse aus Warschau und anderswo dicht aneinander. Ein Busfahrer, der das Wort Visum schon nicht mehr hören will, bestätigt, daß die Kontrollen in den Bussen viel zuviel Zeit wegnehmen würden und schon deswegen kaum der eine als Tourist und der andere als Händler entlarvt werden könnte. Aber auch er bestätigt die sinkenden Zahlen der reiselustigen Landsleute. „Alle sind unsicher“, weiß er. Noch am Wochenende meldete das polnische Fernsehen, daß die alliierte Anordnung nicht mehr gelten soll und die beiden deutschen Innenministerien sich für den Visumzwang entschieden hätten. So richtig sieht keiner mehr durch in Polen, und so bleiben sie erst mal zu Hause. Aber viel Zeit haben sie nicht mehr. Alliierte Anordnungen gelten in dieser Stadt noch vier Wochen. Dann kann das Bundesinnenministerium den Osteuropäern Steine in den Reiseweg legen, wie es will, denn ab 3. Oktober gehört Deutschland zuallererst den Deutschen.

Torsten Preuß