Der große Augenblick der Wiederkehr

■ "Mit dem Kopf hier - mit dem Herzen in Chile": So beschrieben chilenische Flüchtlinge zu Pinochets Zeiten ihr Exil in Deutschland. Heute ist die Diktatur vorbei, die Exilanten kehren zurück, und die ...

„Mit dem Kopf hier - mit dem Herzen in Chile“: So beschrieben chilenische Flüchtlinge zu Pinochets Zeiten ihr Exil in Deutschland. Heute ist die Diktatur vorbei, die Exilanten kehren zurück, und die Chilenen wählen christdemokratisch: Was taugen die alten Ideale noch? Der Rückkehrer Miguel Velazques findet bei seiner Ankunft ein anderes Chile vor. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen sich, Erinnerungen der Flucht werden lebendig, das neue Chile erschafft in ihm neue Bilder.

Von Andreas Hüllinghorst

Allende ist tot. Seine Kameraden setzen den Toten, in die chilenische Flagge gehüllt, auf den Präsidentensessel in der Moneda, dem chilenischen Regierungssitz, von dem aus bis zum bitteren Ende, dem bitteren Sieg der Anhänger Pinochets Widerstand geleistet wurde.

Miguel Velazques lebt. Er, Tischler in der Universität von Santiago de Chile, einer unter vielen, kämpfte für ein freies Chile, das - gestern noch greifbar nahe - nun um so weiter weg ist und nur noch ersehnt und nicht mehr erlebt werden kann. Drei große Streiks hat Miguel mitgemacht, stand in den ersten Reihen, verteidigte sich und seine Kollegen. Wie soll das Leben nun weiter gehen?

Ein Tischlerkollege kommt zu ihm. Miguels Abteilungsleiter will ihn wieder in der Universitätstischlerei einstellen. Miguel nimmt das Angebot an. Doch die Putschisten machen reinen Tisch; nichts darf mehr vom Chile Allendes zeugen. Ein neuer Direktor ist von den neuen alten Herren eingesetzt worden; rigoros führt er ihre Pläne aus. Nur wenige Tage arbeitet Miguel am vertrauten Platz in der Tischlerei der Universität, man schreibt den 13.Oktober 1973, da wird ihm die Kündigung gereicht. Zugleich erhält er eine Vorladung vor Gericht, die lange Gefängnisjahre erahnen läßt: gegen vier Ausnahmegesetze soll er verstoßen haben. Das alles passiert in der Mittagspause, und zwei Tage später schon eilt ein Mitarbeiter zu ihm. „Die Polizei ist da“, warnt er, „und fragt nach Dir!“ Miguel flieht aus der Tischlerei.

Von diesem Tag an hat er seine Tischlerei nie mehr betreten, und auch sein Zuhause soll er nur noch einmal innerhalb einer langen langen Zeit wiedersehen. Mit einer Tüte voller Habseligkeiten vagabundiert er durch die Hauptstadt, lebt mal bei diesem, mal bei jenem Bekannten, arbeitet schwarz, um wenigstens das Notwendigste fürs Leben kaufen zu können.

Den Kontakt zur Familie hält Miguel über die Tochter eines Freundes. Sie ist die Schulkameradin seines Sohnes Eliseo. Heimlich tauschen die Kiinder Briefe von Ines, Miguels Frau, und ihm aus.

Ines kennt Mitarbeiter der „Vicaria de la Solidaridad“, dem ehemaligen „Friedenskomitee“ in der katholischen Kirche. Dort erfährt sie: Der 6.Dezember ist der letzte Tag, an dem europäische Botschaften Flüchtlinge aufnehmen und nach Europa fliegen. Langsam formt sich in ihr der Gedanke zu fliehen; er gräbt sich in ihr ein, bis sie tätig wird und sich und ihrer Familie Fluchtplätze besorgt. Tage später schreibt sie ihrem Mann einen Brief: „Miguel, am 6.Dezember flüchten wir, sei mittags um halb eins in der Avenida Brasil. Um drei Uhr müssen wir in der Schweizer Botschaft sein, um noch in die Schweiz zu kommen. Ich habe alles vorbereitet.“

Miguel ist pünktlich am vereinbarten Ort. Endlich kann er nach Wochen wieder seine Ines in die Arme schließen. Es hält ihn, den Unglücklichen, nicht in ihren Armen. Noch einmal muß er „für eine halbe Stunde“ weg, von Freunden Abschied nehmen.

Wieder zurück, trifft er Ines nicht mehr an. Polizisten stehen auf der Straße. Miguel wird es angst und bange. Hat man meine Ines eingesperrt, fragt er sich aufgeregt. Noch drückt er sich an eine Hauswand, wartet auf seine Frau, fleht ihr Kommen herbei, schilt sich einen Dummkopf, bis er in seiner Verzweiflung mit dem Bus nach Hause, endlich nach Hause, nach Hause fährt.

Zuhause versteht man die Welt nicht mehr. Die Mutter ist nicht da, dafür der Vater, der gar nicht hier sein darf. Sie taucht nach verzweifelter Suche nach ihrem Mann erst viertel vor drei auf, zu einem Zeitpunkt, an dem an ein pünktliches Erreichen der Schweizer Botschaft nicht mehr zu denken ist. Die Einsicht wächst: Man hat die letzte Chance verpaßt. Niedergeschlagenheit macht sich breit. Ratlosigkeit. Was soll nun kommen? Erst die lauten Worte des Familienoberhaupts, Miguels Vater, reißen die beiden wieder in die Gegenwart, klären den Verstand: „Willst Du sterben? Du mußt ins Ausland, ins Ausland!“ Ins Ausland, dröhnt es in ihren Köpfen.

Ines und Miguel fahren mit ihren Kindern zum Büro der „Vicarai de la Solidaridad“ und bekommen dort zu hören, was sie schon längst begriffen haben: Heute war der letzte Termin. - Nur Mario, Glücksengel, der später selber kein Glück haben soll, vom Militär geschnappt wird und nie mehr auftaucht, der weiß an diesem Tag mehr als alle anderen im Raum. Er bringt Miguel und Ines zur bundesdeutschen Botschaft. Dort wird ihnen ein Flug in die Bundesrepublik garantiert. Bis zum 10.Januar 1974 bleibt die Familie in der Botschaft, dann fliegt sie, und Stunden später atmet sie neue unbekannte Luft. Gerettet.

Diese Bilder von den letzten bewegten Tagen in Chile führt sich Miguel Velasques knapp sechzehn Jahre später, am 15.Mai 1989, im Flugzeug nach Santiago de Chile sitzend noch einmal vor Augen. Mehr als fünfzehn Jahre lebte er mit Ines und seinen beiden Kindern im ostwestfälischen Bielefeld. Die Zeit im Exil ließ seine Haare ergrauen. Die Hoffnung auf ein demokratisches Chile und die Sehnsucht nach seiner geliebten Heimat gruben sich, immer wieder von Enttäuschungen begleitet, mit tiefen Falten in sein Gesicht. Vergessen gab es bei den Chile-Penas, den Festen der Exil-Chilenen, veranstaltet, um uns Deutschen das lebendige Chile nahezubringen. Auf solchen Festen tanzte Miguel die „Cueca“. Wild. Erschrocken, wenn er am Ende des Tanzes die Augen öffnete und in lauter neugieriege deutsche Augen schaute. Vergessen gab es in glücklichen Momenten wie bei den Geburten seiner Enkel Ricardo und Maria. Und Tischler ist er gebllieben. Mit festem Arbeitsvertrag. Dieser und die Sicherheit auf einen Rentenanspruch ließen ihn zwei Jahre länger als nötig in Deutschland verharren, um nicht wie viele andere heimkehrende Chilenen von der Hand in den Mund leben zu müssen. Aufgrund der 1986 Pinochet abgerungenen Amnestie hätte Miguel schon damals einreisen können.

Um ihn herum wird es unruhig. In wenigen Minuten landet das Flugzeug auf dem „Aeropuerto Pudanuel“, informiert eine Stewardeß. Fünfzehn Jahre - jetzt sind sie wie eine Sekunde, wie nichts. Nie gab es für Miguel etwas anderes als Chile. Sein Körper war im Exil, sein Herz aber blieb in der Heimat. Es hat alles miterlebt, hat sich verkrampft, als Pinochet 1985, dem Höhepunkt der Repressionen, die Daumenschrauben anzog, und mochte kaum einen Schlag tun, als am 5.Oktober 1988 um 21.30 Uhr auf dem Computerbildschirm in der Zentrale des „Comando por el No“, das demokratische Bündnis für ein Nein zu Pinochets weiterer Präsidentschaft, eine Zahl aufleuchtete: 55,69% gegen Pinochet. Da hat sein Herz seinem Körper zugerufen: „Komm jetzt!“

Nach dem Rausch der Vereinigung erwacht das Bewußtsein. Es findet sich am frühen Morgen in der Poblacion „Los Nogales“ in Santiago de Chile, in einem kleinen flachdächigen weißen Steinhaus „Timuco Nr.865“, in einem Bett in einem Kinderzimmer wieder. Hier verbrachte Miguel seine erste Nacht in der Heimat. Nach dem großen Augenblick des Wiedersehens seiner Geschwister Pelau und Theresa feiertern sie in diesem Haus mit allen Verwandten und Bekannten seine Rückkehr. Miguel mußte viel erzählen, doch jeder zweite Satz war: „Ich bin wieder hier, Freunde!“ Darauf einen Pisco, Umarmungen - und die „Cueca“, um den gemeinsamen Rhythmus zu finden. Diesmal blieben die Augen weit auf. Er wollte die chilenischen Augen sehen, die an ihm vorbeischwirrten.

Miguel blickt sich im Kinderzimmer seiner Nichten um. Zwei Betten füllen den Raum, Puppen im Regal, ein „Madonna„ -Poster an der Wand. Als er Chile verließ, erinnert er sich, hing hier ein Bild von Victor Jara. Etwas Unbekanntes packt ihn und läßt ihn aus dem Bett springen, um sich im Haus umzuschauen.

Die Zimmertür führt in den Innenhof des Hauses. Die Morgensonne hat den großen Tisch, die um ihn stehenden Stühle und die Reste der Feier erwärmt. Gras dringt spärlich durch den Lehmboden; nur in der Nähe der

weißgetünchten Mauer, die den Hof nach hinten hin eingrenzt, wächst es dichter. Dem Kinderzimmer gegenüber liegt ein Schuppen, in dem Miguel früher Bretter und Werkzeug aufbewahrte. So schnell er die Schuppentür öffnet, so schnell schließt er sie wieder, denn im Raum, der wohnlich eingerichtet ist, schläft wer. „Eine arme Frau“, meint Pelau am Mittagstisch, als Miguel ihn nach dem Zimmer fragt, „die dort mietfrei mit ihrem Sohn wohnt. Sie wirtschaftet in drei Haushalten reicher Familien, doch der Verdienst reicht grade für das Nötigste“.

Einige Meter vom Zimmer der Frau Perez entfernt geht's vom Innenhof in die Küche. Dort ist nur noch der Geruch derselbe geblieben. Fisch, Mais, Bohnen und Melonen gaben ihren Duft an Holz und Wände ab. Gerade will sich Miguel ein Stück Melone aus dem Kühlschrank holen, da klopft es an der Durchreiche. Wer mag schon im Wohnzimmer sein, denkt er sich und öffnet sie. Es lugt ein Jungenkopf grinsend in die Küche hinein und fragt Miguel nach „Fichas“, kleinen Spielautomatenmünzen. Miguel erklärt ihn für verrückt und während er schnell über den Innenhof in das Wohnzimmer eilt, fragt er den Bengel, was er denn im Wohnzimmer zu suchen habe. Der braucht nichts zu sagen, denn in dem, was Miguel seit sechzehn Jahren für ein Wohnzimmer hielt, piepst, tutet und blinkt es von einem halben Dutzend Spielautomaten her. Das Wohnzimmer der Familie Velazques ist eine öffentliche Spielhölle geworden. Miguel kann es nicht begreifen. Hier geht es ja drunter und drüber! Die Schwester wird sich und ihre Familie später verteidigen: „Wie, Spielautomaten rausschmeißen? Du Narr, wie soll man überleben, wenn nicht einmal die Arbeitskraft mehr Wert hat, wenn ich und mein Mann seit Jahren arbeitslos sind, nur noch diesen Raum einer Firma anbieten können, die diese Automaten aufstellt und dafür eine geringe Miete bezahlt?“

In den nächsten Tagen geht Miguel oft mit Pelau durch die Poblacion. Miguel hat diese Armensiedlung vor mehr als dreißig Jahren mitgegründet. Damals wie heute treibt die Not Männer und Frauen an den Stadtrand Santiagos, um dort einfache Holzhütten zu bauen, die, wenn sie nicht von der Miliz abgerissen werden, peu a peu durch Steinhäuser ersetzt werden. Heute verfügt „Los Nogales“ nach langjährigen Auseinandersetzungen mit den Behörden über Wasser, Strom und Kanalisation. Miguel saugt die Gegend in sich auf, erkennt Häuser und Straßen wieder und erzählt Pelau Geschichten von damals, die der schon lange kennt. Viele Leute gehen auf Pelau zu. Er ist hier bekannt und stellt seinen Bruder vor. Die Leute sind freundlich zu Miguel, manche erinnern sich an hin und klopfen ihm herzlich auf die Schultern. Danach unterhalten sie sich wieder mit Pelau über die neuesten Geschehnisse in der Poblacion. Es wurde „von da oben“ ein neuer Bürgermeister für das Viertel eingesetzt. Nun wollen die oppositionellen Parteien, von den Christdemokraten bis zu den verbotenen Kommunisten, einen alternativen Bürgermeister stellen. Der soll das richtige Sprachrohr für „Los Nogales“ sein und keine eingesetzte Marionette. Man unterhält sich angespannt darüber, daß mehrere Kandidaten zur Wahl stehen sollen und daß mit Urnen gewählt wird. Miguel hört skeptisch zu, kann aber nicht wie Pelau, der die letzten fünfzehn Jahre hier gelebt hat, mitreden. Miguel wird im tiefsten Innern neidisch auf seinen jüngeren Bruder, der früher immer auf ihn hörte. Das Unbekannte, das ihn am ersten Morgen in seiner Heimat aus dem Bett schnellen ließ, bricht sich in Miguel Bahnen. Vieles ist ihm so unverständlich, so fremd. Ich bin ein Fremder im eigenen Land geworden, gesteht er sich.

Monate später sitzt Miguel Velazques am Strand von Isla Negra auf einem der großen Steine vor der Villa des verstorbenen Dichters Pablo Neruda. Er hat erfahren, daß sein Land anders geworden ist. Seine Gedanken stimmen nicht mehr mit der chilenischen Wirklichkeit überein. Seit mehr als fünfzehn Jahren lebt er mit Bildern von seiner Heimat, die ohne sein Wissen idealer wurden. Seine Landsleute erstarrten zu Heldinnen und Helden, die nur ein Ziel haben und an nichts anderes denken sollten, als den verhaßten Pinochet zu Fall zu bringen. Seit über fünfzehn Jahren lebt er mit Bildern von seiner Heimat, die sich abseits von seinem Bewußtsein weiterhin entfaltete, von Verhältnissen geprägt, die er nur noch von weit entfernt minimal beeinflussen konnte. Die Chilenen haben einen anderen Bewegungsrhythmus gefunden. War zu Allendes Zeiten für viele von ihnen der Sozialismus ein Ziel, das alle Probleme lösen und möglichst bald mit aller Kraft erreicht werden sollte, streben sie heute nach einem ruhigen, zufriedenen Leben. Er begreift, daß diese Menschen in erster Linie leben wollen, ihr Interesse der unmittelbaren Existenzsicherung gilt. Und wenn hier Veränderung möglich ist, dann nur von diesen Bedürfnissen aus. Kein Sozialist, kein Sozialdemokrat gewann die Präsidentschaftswahlen. Der Christdemokrat Aylwin führt das chilenische Volk. Er steht einem Parlament vor, das von einem „Nationalen Sicherheitsrat“ kontrolliert wird, welches Gesetze verhindern und sogar die Regierung absetzen kann. Pinochet, nun Senator auf Lebenszeit, ist der Vorsitzende. Er hält nach wie vor die Zügel der Macht in seinen Händen. Von Sozialismus spricht keiner mehr. Eine verstaubte Alternative. Es zählt der Wirtschaftskurs der Regierung, der Verkauf der eigenen Lebensmittelindustrie an ausländische Unternehmer, der viele Chilenen in eine ökonomisch bessere Lage versetzt, und nicht die Geschichten einer vielleicht besseren Gesellschaftsform. So langsam, so grausam langsam, denkt Miguel, bewegen sich seine Landsleute.

Das Schlimmste noch ist der Selbstbetrug. Der hat ihn überhaupt in die Misere gezogen. Der Mensch gleicht einem Spiegel. Der kann zersplittern und auch stumpf werden, aber sich nie teilen. Nie war der Körper allein in Deutschland, und das Herz blieb nicht allein in Chile zurück. Beide lebten sechzehn Jahre in der Budnesrepublik und konnten nur aus der Ferne die Heimat erfassen. Miguel weiß nun: Die Rückkehr ist ein neuer Bruch in seinem Leben. Will er hier bleiben, müssen die alten Bilder vom Trügerischen gereinigt und mit der aktuellen Wirklichkeit zu einem neuen verschmolzen werden. Hier an der Peripherie beginnt er wieder zu lernen.

Der Abend graut. Der Flug der Minerva beginnt.