Arbeitslosigkeit: Auch da ist Berlin Spitze

■ Präsident des DDR-Arbeitslosenverbandes: Große Rechtsunsicherheit und keine Konzepte / Künftige Arbeitslosenquote in Berlin vermutlich höher als in jedem anderen Land

INTERVIEW

Ost-Berlin. Der Arbeitslosenverband der DDR wurde bereits im März diesen Jahres gegründet. Er finanziert sich durch Spenden, die MitarbeiterInnen arbeiten bislang ehrenamtlich. Zum Präsidenten wurde der 49jährige Soziologe Klaus Grähn gewählt, der den Verband auch ins Leben gerufen hat.

taz: Das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) geht in einer jetzt veröffentlichten Studie davon aus, daß die Arbeitslosenzahl in Ost-Berlin bis Ende des Jahres auf 250.000 ansteigt. Das wäre fast ein Viertel der gegenwärtigen Beschäftigten. Wie bewerten Sie eine solche Prognose?

Klaus Grähn: Grundsätzlich glaube ich nicht an Prognosen, solange ich den Hintergrund nicht kenne. Aber an der These „Berlin - Hauptstadt der Arbeitslosen“ ist mit Sicherheit was dran. Hier wird die Quote so hoch schnellen wie in keinem anderen Land der DDR oder der BRD. Allein aus dem Staatsapparat der DDR wird ein großer Teil in die Hauptstadt entlassen. Hinzu kommt, daß Ost-Berlin ein Standort mit sehr viel Industrie ist, wovon ein bedeutender Teil nicht überlebensfähig ist. Und: Der gesamte Verwaltungsapparat auch außerhalb der Kommune wird vermutlich zu großen Teilen entlassen. Ob das nun die Bildungseinrichtungen sind, die Akademie der Wissenschaften... auf jeden Fall sind es Zahlen, die in die Tausende gehen. Und die werden für erheblichen sozialen Sprengstoff sorgen, gerade in Berlin.

Wieviele Arbeitslose gibt es zur Zeit?

Die offizielle Zahl der Regierung liegt DDR-weit bei 350.000. Das sind aber eigentlich keine Arbeitslosen, sondern die Antragsteller auf Arbeitslosengeld. Zu dieser Zahl muß man die rund 900.000 sogenannte 100-Prozent -Kurzarbeiter hinzurechnen. Die haben keine Arbeit und sollen umgeschult werden, aber es gibt keine Kapazitäten dafür, geschweige denn ein Konzept, was die Richtung bestimmt, wohin oder wer umgeschult werden soll. In Ost -Berlin befinden sich etwa 20 Prozent aller DDR -Arbeitslosen, das wären 70.000.

Inwieweit arbeiten Sie mit den Arbeitsämtern zusammen?

Es gibt Zusammenarbeit, um unter anderem Umschulungen und ABM-Maßnahmen zu ermöglichen und zu koordinieren.

Was macht der Arbeitlosenverband?

In Berlin sind bis jetzt drei Lehrgänge a 70 Arbeitlose für Motivations-, Verhaltens- und Bewerbertraining gelaufen, weil wir glauben, daß der DDR-Bürger ein aktives Verhalten, wie es unter Marktbedingungen notwendig ist, erst lernen muß.

Worin sieht der Arbeitslosenverband seine Hauptaufgaben?

Sowohl in Rechtsberatung wie in sozialer und psychologischer Berufsberatung. Allein in Berlin sind mehrere tausend Arbeitsstreitfälle bei den Gerichten anhängig, die bis zum 3. Oktober gar nicht bewältigt werden können.

Was sind typische Streitfälle?

Fälle, wo unser altes Kündigungsrecht und Kündigungsschutzrecht nicht eingehalten wird. Wo wild entlassen wird, zum Beispiel in der Schwangerschaft oder ohne die Zustimmung des Betriebsrates einzuholen. Die Arbeitsämter haben oft Schwierigkeiten, weil sie die diversen Auslegungen des Arbeitsförderungsgesetzes gar nicht kennen. Ein Interpretionsrecht gibt es ja bei uns gar nicht.

Inwieweit hat sich der Arbeitslosenverband in die politische Diskussion eingebracht?

Wir haben einen offenen Brief an alle Parteien, die Regierung und die Gewerkschaften geschickt mit der Bitte zu prüfen, ob es möglich ist, eine Arbeitsgruppe Arbeitslosigkeit einzurichten, die unter Koordination des Arbeitslosenverbandes steht. Alle Parteien haben sich erfreulicherweise verbal dazu bekannt, etwa 90 Prozent der DDR-Organisationen sind an diesem Tisch. Wir tagen einmal monatlich, das nächste Mal am 13. September und da sollen dann auch erste Beschlüsse gefaßt werden.

Was ist aus Ihrer Sicht zu tun, um die negative Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abzufedern?

Notwendig ist eine reale Darstellung der Ist-Situation von seiten der Regierung. Das riesiggroße Wirtschaftsministerium mit 5.000 Mann hat es bislang nicht geschafft, vor Ort, in den Betrieben zu recherchieren: Welche materiellen, personellen, finanziellen Bedingungen sind vorhanden, lebensfähig oder nicht? Auf dieser Grundlage könnte man ein Programm erarbeiten, was seit der Wende noch immer nicht da ist. Zweitens sind arbeitsplatzschaffende und -erhaltende Investitionen nötig. Mir ist unverständlich, warum die Gelder nicht dafür genutzt werden, eine bessere Infrastruktur herzustellen, Straßen, Telefon usw. Stattdessen gibt es DDR-weit 30.000 Arbeitslose im Bauwesen. Über eins muß man sich doch klar sein: Es investiert kein Betrieb, wenn er die Infrastruktur selbst noch herstellen muß.

Interview: Martina Habersetzer