Zählen Sie von hundert rückwärts...

■ Michael Crichtons Organspende-Thriller „Coma“ von 1977, 22.30 Uhr, RTL

Neulich an der Kiesgrube erklärte mir eine Kollegin unvermittelt, daß die traumatisierende Wirkung des „Weißen Hais“ auf Badende weit überschätzt sei. Man könne sich ja einfach vom Wasser fernhalten. Auf diese Weise löse sich das Problem mit „Orka“, dem Killerwal, ebenso wie mit den „Piranhas“. Genau! Pflichtete eine andere Kollegin bei, die gerade aus dem Wasser kam. Außerdem greifen Haie keine Menschen an.

Eine reale Bedrohung gehe nur von alltäglichen Situationen aus. Zum Beispiel, wenn einer wegen einer ganz harmlosen Sache zum Arzt geht, dieser ihm sagt, es sei nichts, man müsse eben nur mal ein Knopfloch weit aufmachen, um nachzuschauen. Wann? Erkundigt sich der verdutzte Patient. Heute, sagt der Arzt...

Eine herrliche Dialogpassage aus Luis Bunuels Das Gespenst der Freiheit, deren Pointe ebenso auf Michael Crichtons Science-Thriller Coma zutrifft. Der Film spielt im Boston Memorial Hospital. Eingeliefert wird ein braungebrannter, vor Gesundheit strotzender Fußballer (Tom Magnum Sellec), der wegen einer harmlosen Sache am Knöchel operiert wird. Er wacht nicht mehr aus der Narkose auf. Koma, diagnostizieren die Ärzte achselzuckend. In der Sprache der Medizin eine „unaufhebbare Bewußtlosigkeit“. Geschieht ungefähr sechsmal in 100.000 Fällen, ungefähr...

Als die Ärztin Nancy Wheeler (Genevieve Bujold) zufällig bemerkt, daß diese Quote in Bosten sehr viel höher liegt, hat sich die Situation längst zugespitzt. Michael Crichton, der selbst Anthropologie und Medizin studiert hat, führt den Zuschauer aus zynischer Perspektive in eine gefühlskalte, absolut funktionale Krankenhausatmosphäre ein. Der Film bezieht einen Großteil seiner Wirkung aus der Unausweichlichkeit, möglicherweise selbst einmal ins Krankenhaus zu müssen. In ein unüberschaubares Labyrinth, in dem man betäubt, wie ein toter Apparat auf einem Fließband hin- und hergereicht und von maskierten Ärzten geschnitten wird, die unablässig über Baseball reden.

Mittlerweile hat Nancy herausgefunden, daß nur die Patienen aus OP 6 nicht mehr aus dem Koma erwachen. Eine Dosis Kohlenmonoxid führt zum Hirntod, um die noch lebenden Körper an die schwunghaft florierende Organbörse zu verhökern. Natürlich glaubt ihr die Geschichte keiner. Am wenigsten ihr Freund, Dr. Mark Bellows (Michael Douglas), ein postengeiler Aufsteiger, der die ganze Zeit über Krankenhauspolitik (und natürlich über Baseball) redet und seine Freundin für überspannt und egoistisch hält, wenn sie ihm abends sagt: „Hol‘ dir dein Bier selbst.“

Obgleich die Thematik subtiler gewählt ist und ihre Brisanz aus dem unauffälligen Changieren zwischen Fiktion und Realität bezieht, ist Coma ein Produkt jener Katastrophenfilme, die in den 70ern und frühen 80ern die Kinos überschwemmten. Als solcher bezieht er seine Spannung auch aus Action- und Verfolgungsszenen. Wie Charles Bronson muß sich Genevieve Bujold gegen Killer in Kühlschränken wehren und auf den Dächern von LKWs flüchten.

Dennoch gibt es zahlreiche interessante Szenen am Rande. Etwa das Gespräch der „Spezialisten“ in der Pathologie, die „mehr wissen als jeder Gerichtsmediziner“ und verträumt über Morde wie über ästhetische Kunstwerke debattieren, derweil das Gehirn einer Leiche in Scheibchen geschnitten wird.

Schon wegen des Themas lohnt es sich, diesen Streifen noch einmal anzuschauen. Obwohl der Regisseur unter kommerziellem Erfolgsdruck stand, sind ihm noch etliche phantastische Szenen gelungen.

Manfred Riepe