Der befreite Klang

■ Edgard-Varese-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste

Ausstellungen, die Musik betreffen, sind unspektakulär, müssen es sein. Die Exponate beziehen sich auf ihren Gegenstand nur mittelbar, sind papieren, zweidimensional, zumeist nicht einmal farbig. Mit Lesen allein ist es nicht getan, Partituren sind zu dechiffrieren, Klänge zu vergegenwärtigen.

Edgard Varese ist zudem ein Sonderfall in diesem Zeitalter der Materialflut. Die Musik, die er hinterlassen hat, dauert zusammengenommen nicht einmal zweieinhalb Stunden; weniger als das Oeuvre Weberns. Das gesamte Frühwerk ist verbrannt, verschollen, widerrufen, die Skizzen und Studien zu seinen Stücken sind systematisch vernichtet oder in Safes verschlossen und völlig unzugänglich. Er hat keine Theorien gebildet und keine namhaften Schüler folgten seinen Wegen. Seine Stücke sind kantig und unfreundlich bis zur Brutalität und daher nur selten gespielt. Dennoch steht er wie ein Riese in der Musikgeschichte, die er wie nur wenige andere nachhaltig beeinflußt und geprägt hat.

Eine Ausstellung in der Akademie der Künste (Westberlin), anläßlich des 25.Todesjahrs von Varese (1883-1965), ist ein Akt der Spurensicherung. Helga de la Motte-Haber und Klaus Angermann haben in mühevoller Recherche zusammengetragen, was sich an den in Europa und Amerika verstreuten Dokumenten zu Leben und Werk von Varese noch finden ließ.

Das Frühwerk, darunter mehrere Opern und symphonische Dichtungen, ist 1918 bei einem Brand zum größten Teil zerstört worden, worüber sich Varese mit Befriedigung geäußert hat, denn er wollte nichts von dem, was vor Ameriques (1918-22) entstand, gelten lassen. Dabei handelte es sich durchaus nicht um Schüler- oder Studienarbeiten, nicht um Gelegenheitswerke minderen Wertes; für eine Aufführung des Orchesterstücks Bourgogne (1907 -09) haben sich Hugo von Hofmannsthal und Gustav Mahler nachhaltig eingesetzt. Richard Strauß erwirkte gegen mannigfaltigen Widerstand die Uraufführung (1910) in Berlin. Presse und Publikum ließen das Stück allerdings gnadenlos durchfallen und sparten nicht mit harschem Urteil, eine Erfahrung, die Varese bis in die fünfziger Jahre hinein machte - so ziemlich jedes Konzert endete mit einem Skandal. Daß Bourgogne zumindest einmal aufgeführt wurde, ist für uns geradezu ein Glücksfall, denn durch die Zeitungen, Kritiken und die Aussagen von Varese (der die Partitur erst 1962, drei Jahre vor seinem Tod verbrannte) läßt sich ein, wenn auch unscharfes, Bild dieses Stücks gewinnen. Die Einflüsse für seine kompositorischen Vorstellungen formulierte er einmal so:

„Die frühen Werke würde ich architektonisch nennen. Ich arbeitete mit berechneten und gegeneinander ausbalancierten Klangblöcken. Ich wurde durch natürliche Objekte und physikalische Phänomene beeinflußt. Als Kind war ich ungeheuer durch die Qualitäten und den Charakter von Granit beeindruckt, den ich in Burgund fand. Es gab dort zwei Arten von Granit: grauen und blaßrot gestreiften. Dann gab es in diesem Teil Frankreichs alte romanische Kirchen. Ich pflegte in einer Kirche aus dem sechsten Jahrhundert zu spielen und beobachtete die alten Steinschneider, die Präzision bewundernd, mit der sie arbeiteten. Sie benutzten keinen Mörtel, und jeder Stein mußte eingepaßt und mit jedem anderen ausbalanciert werden. So war ich immer in Berührung mit Dingen aus Stein und mit dieser Art von reiner strukturaler Architektur - ohne Krausen und unnötige Verzierungen. Dies alles wurde ein integraler Teil meines Denkens schon in einem sehr frühen Stadium. Ich würde diese Musik als graniten charakterisieren.“

Vielleicht war es diese Haltung, die romantische Monumentalität und das ungewöhnliche Musikdenken, die die Kritiker irritierte. Allesamt suchten sie nach motivisch -thematischer Arbeit, nach Tonhöhenstrukturen und Entwicklungen, wie sie es von der Musik bis dato zu finden gewohnt waren. Im Fall Varese jedoch ein ähnlich verfehlter Ansatz, als wollte man Jackson Pollocks Bilder unter dem Gesichtspunkt der Zentralperspektive beurteilen.

Wie kein anderer vor ihm hat sich Varese von der traditionellen Auffassung gelöst, daß Töne Material und Grundlage der Musik seien. Tonleitern im temperierten System „klingen alle gleich“ und dem Diktat des Tonsatzes trachtete er daher schon früh zu entrinnen. Daß die Musik von „musikalischen Nekromanten in Regeln einbalsamiert“ wird, war ein Vorwurf, den er auch an die Zwölftontechniker richtete. Für Varese stand der Klang mit seinen Farben, Timbres und körperlichen Qualitäten im Zentrum kompositorischer Arbeit. DieseKlangkörper herauszubilden, sie im Raum wirken zu lassen und sie gegeneinander auszubalancieren, war sein Anliegen.

„Ganze Symphonien von neuen Klängen sind in der industriellen Welt aufgekommen und bilden unser Leben lang einen Teil unseres täglichen Bewußtseins. Es erscheint unmöglich, daß ein Mensch, der sich ausschließlich mit Tönen beschäftigt, durch sie unverändert bleiben kann. So muß man also, wenn man ein Konzert mit zeitgenössischer Musik verläßt, folgern, die meisten Komponisten seien taub, oder ihr Auffassungsvermögen sei beschränkt auf diejenigen Töne, die seit ein paar hundert Jahren von Orchestern hervorgebracht werden. Und die Komponisten, die nicht nur gute physische Ohren haben, sondern auch mit dem inneren Ohr begabt sind, dem Ohr der Erfindungskraft, sie hören seit Jahren eine neue Musik, zusammengesetzt aus Tönen, die ihnen die alten Instrumente nicht liefern können.“

Nach Instrumenten, die in der Lage wären, die Klänge seiner Einbildungskraft freizusetzen, hat Varese sein Leben lang gesucht. Schon 1905 experimentierte er mit Sirenen, die Bestandteil seines Orchesters wurden und an deren Verwendung sich manche Partitur identifizieren läßt. Die Begegnungen mit den Pionieren der Elektroakustik und deren elektronischen Musikinstrumente, - Thaddeus Cahills, Rene Bertrand mit dem Dynaphon, Leon Theremin, die Ondes Martenot - verliefen unbefriedigend; die primitiven Klangresultate und die unflexible Handhabung konnten die dezidierten Vorstellungen Vareses nicht befriedigen. Auch das Rumorharmonium (Geräuschharmonium) des Futuristen Luisi Russolo, das Varese 1930 in einem Pariser Konzert vorstellte und dessen Verwendung für seine zukünftigen Stücke er ankündigte, fand keinen Platz im Repertoire seiner Klangerzeuger. Es folgten einige Experimente mit geschwindigkeitsmanipulierten Plattenspielern und Gespräche mit Elektrotechnikern, aber erst 1954 traf er in Pierre Schaeffer den Wegbereiter der Musique concrete, einen Partner, der ihm bei der Suche behilflich sein konnte. In Paris entstanden dann die „Interpolationen“, die elektronischen Einschübe zu Deserts (1948-54), das bis heute eine der erstaunlichsten Synthesen von Orchester und elektronischen Klängen ist. Hier ist der Übergang vom Orchesterklang zu den elektronischen Zwischenteilen so fließend gestaltet, daß die Tonbänder wie eine folgerichtige Weiterführung des Instrumentalklangs erscheinen. Den Abschluß der Suche nach Klängen, die „den Diktaten des inneren Ohres der Imagination genügen“, bildet das Poeme electronique, eine raum-akustische Musik, die mittels 432 Lautsprecher in den von Jannis Xanakis erbauten Philips -Pavillon auf der Weltaustellung in Brüssel (1958) „projiziert“ wurde. Endlich scheinen die elektroakustischen Mittel genügend ausgereift zu sein, um seine früheren Konzepte zu realisieren; eine Umarbeitung älterer Werke hat er erwogen, aber nicht mehr realisiert.

Die Ausstellung zeichnet diesen Weg nach und belegt mit Bildern, Dokumenten, Skizzen, Partituren und knappen Kommentaren die Stationen der Arbeit von Edgard Varese. Es ist für eine Audiothek gesorgt, an der das Gesamtkunstwerk abgehört werden kann und ein Videoportrait von Luc Ferrari rundet die Dokumentation ab. Aus dem Mosaik der fragmentarischen Materialien hebt sich nach und nach ein schwaches, wie unterbelichtetes Bild ab, die Person Varese entzieht sich jedoch immer wieder auf seltsame Weise; nur an das Werk selbst kann man sich schließlich halten, das, immer noch rätselhaft genug, wie aus dem Nichts entstanden zu sein scheint.

Frank Hilberg

Die Ausstellung ist bis zum 23.September in den Archivräumen der Akademie der Künste, Berlin-Tiergarten, Spandauer Damm 19, von Donnerstag bis Montag zwischen 14 Uhr 18 Uhr zu besichtigen.

Am Sonntag, den 9. September findet um 11 Uhr im Clubraum der Akademie eine Matinee mit Werken von Varese statt. Aufgeführt werden neben Werken anderer Komponisten Vareses „Poeme electronique“ und das Lied „Un grand sommeil noir“