Geiselnahme in der Antarktis

■ Wie man sich selbst schützt

Wer sich vor seinen Feinden schützen will, muß Geiseln nehmen. Zu solchen gemeinen Methoden kann auch nur der Mensch greifen. Menschen springen oft tierisch miteinander um, während es im Tierreich menschlich zugeht. Doch das stimmt gewiß nicht immer. Was Saddam Hussein dieser Tage im heißen Wüstensand treibt, praktiziert Hyperiella schon lange im kühlen antarktischen Naß. Hyperiella, ein Krebstierchen, einen halben Zentimeter groß, ist nur durch eine dünne Schale vor seinen Feinden geschützt. Die Natur hat es nicht wie seine Verwandten mit Panzerhaut, Stachelfortsätzen oder Haaren ausgerüstet, mit denen freßlustige Fische eines besseren belehrt werden können. Dabei ist Hyperiella ein sehr appetitlicher Happen für meherere Fischarten, die sich in ihren heimatlichen Gewässern der Mudoch Bay tummeln. Bleibt nur die gemeinste aller Abschreckungsmethoden: Hyperiella nimmt sich eine Geisel. Die heißt Clione, gehört zu den schalenlosen Meeresschnecken, und ist gerade halb so groß wie ihre Entführerin. Clione schützt sich mittels übelster Chemie vor Feinden. Eine bisher unerforschte chemische Substanz verleiht der Schnecke einen so schrecklichen Geschmack, daß sie nicht gefresen wird. Wenn sich Hyperiella nun eine Clione schnappt und sie mit ihren zwei Krebsärmchen auf ihren Rücken packt, wird das Entführer -Geisel-Paar ungenießbar.

James McClintock von der Universität Alabama beobachtete, wie Fische, die Hyperiella sonst mit Vorliebe verspeisen, auf die Hyperiella-Clione-Mischkost verzichteten. Oftmals schwammen Freßlustige an die vermeintliche Beute heran und wandten sich ab, wenn sie die huckepackreisende Geisel entdeckten. Ob visuelle oder chemische Signale auf den üblen Fraß verweisen, ist unklar. Womöglich erkennen die Fische Clione am auffallenden orangenen Äußeren. Klar genug dafür ist das Wasser der Murdoch Bay.

Nur in wenigen Fällen verschlingt ein unbedachter Feind die Mischkost, um den ekelhaften Happen dann unter heftigem Kopfschütteln wieder auszuspeien. Ein Vorgang, den Hyperiella und Clione überlebten, ohne getrennt zu werden. Eine Symbiose? Jein, meint McClintock. Symbiosen verschaffen beiden Partnern Vorteile. Clione aber wird nur ausgebeutet. Huckepackreitend kann sie sich nicht einmal gescheit ernähren. Hyperiellas Schwimmvermögen und seine Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen, sind dank der Last der Geisel zwar auch eingeschränkt. Egal. Sie kann sich mit fast hundertprozentiger Sicherheit darauf verlassen, daß sie nicht angegriffen wird. Saddam Hussein müßte vor Neid platzen. Deshalb sind in Gebieten, in denen der Feind herrscht, 75 Prozent der Hyperiellapopulation in Begleitung einer Geisel anzutreffen. Ist das nun „menschlich“ oder „tierisch“?

Silvia Sanides