Mehrfachstecker zur Geschichte

■ Mit Bismarck zum Kanzler und zu Fuß durch die Hölle

Obwohl die entscheidenden Worte zur Mammutschau Bismarck, Preußen, Deutschland und Europa des Deutschen Historischen Museums bereits am Montag gesagt worden sind, seien ergänzend noch zwei Anmerkungen hinzugefügt.

Erstens: Warum und wofür gerade jetzt eine solche Ausstellung? Bismarck, dem Mann der vorerst vorletzten Reichseinigung, in der Zeit der vorerst letzten Wiedervereinigung eine Ausstellung zu widmen lädt dazu ein, Parallelen zu ziehen, Vergleiche herzustellen, Verbindungen zu schließen. Vor allem diese: Bismarck, den letzten großen und schillernden wie relativ unbelasteten großen Helden der deutschen Geschichte vor ihren großen Katastrophen, als Big Otto und damit als jene Integrationsfigur aller Deutschen zu inaugurieren, die Kohl nicht vorstellen kann, ist ein historischer Anschluß an eine Person und an ein Deutschland, dessen Geschichte hätte gutgehen können, wäre der Lotse nicht von Bord des Staatsschiffes gegangen.

Die Ausstellung gemacht zu haben, damit solche Schlüsse gezogen werden können, dies weist Christoph Stölzl, Direktor des Deutschen Historischen Museums in Aufbau (DHM i.A.), von sich. Schließlich habe man vor drei Jahren damit begonnen, die Ausstellung zu planen, und vor drei Jahren hat niemand auch nur im entferntesten jene Verbindungen ahnen können, die sich heute zwischen einem wiedervereinigten Deutschland und Bismarck herstellen lassen können. Es würde sich also verbieten, den Ausstellern solche Intentionen vorzuwerfen.

Die Sache sei vielmehr die gewesen, daß man vor drei Jahren nur wußte, daß die erste wirklich große Ausstellung des DHM i.A. auch eine wirklich große Sache, etwas wahrhaft Bedeutendes zum Thema haben müsse: und da sei man auf Bismarck gekommen. Es ist auch kein Wunder, daß man auf Bismarck gekommen ist, kann man an diesem Punkt Stölzls Worte weiterdenken: Otto von, der Baumeister und Begründer des letzten Reiches, das sich in der Historie im vollen Umfang seiner Grenzen als ein deutsches bezeichnen lassen kann, und ein aktueller Kanzler, der das Museum, das später Bismarck ausstellt, dem Volk spendet und es deutsch und historisch haben will - so kommt man auf Bismarck, und so schließt sich der Kreis zur Nation, und die Wiedervereinigung ist nur das überraschende und überspitzende Bonbon dazu. Denn dieses Museum, das auch dazu dienen sollte, ein bundesrepublikanisches Nationalbewußtsein fundieren zu helfen, eine geschichtliche Begründung seiner Existenz, es erweitert nunmehr die Grenzen seiner Zuständigkeit wie die Bundesrepublik qua Artikel 23 mit Bismarck nach Osten hin - Bismarck, Preußen; Kohl, BRD; Deutschland und Europa.

Das ist der Kontext, in dem diese Ausstellung gelesen werden muß. Sie liest sich schon von allein genau so. Denn selbst unabhängig von den Machern ist es viel weniger deren Wollen als der historische Moment, der die Ausstellung liest. Denn diese verläßt im Moment ihrer Eröffnung ihre Urheber und wird frei für die Interpretation, die letztlich die Bedeutung bestimmt.

Das wissen auch Stölzl, von Plessen et al.: Die aber legen unschuldig ihre Hände in den Schoß und erklären, vor drei Jahren wäre alles anders gewesen. Das war's auch schon von ihnen, den Rest erledigt die 'Bild'-Zeitung.

Die zweite Anmerkung betrifft die Inszenierung der Ausstellung. In der Mitte des Gropius-Baues liegt der große Lichthof, um den herum die anderen Räume angeordnet sind. In diesen Innenhof hinein hat der Architekt der Ausstellung, Boris Podrecca, ein Gerüst gestellt, das bis zum nach dem Lichthof hin gelegenen Rundgang des oberen Stockwerkes aufragt. Man soll die Ausstellung, so die Gebrauchsanweisung von Podrecca auf der Pressekonferenz, über eine Brücke betreten, die vom oberen Rundgang auf das Gerüst und dann hinab führt in die Welt der Exponate: „zur Einleitung und Einstimmung“.

Das Gerüst ist freilich kein nacktes Baugerüst, es ragt auf als ein mit einem Tunnelsystem durchgrabener Berg, Schürfrechte auf die ausgestellten Bilder, Dokumente, Gemälde etc. inbegriffen. Passagen und Durchgänge nennt Podrecca dieses durch aufragende, an Stahlwände gemahnende, große, graue Platten auftürmende Alpenvorland mit Aussichtsplattform, Steilwand und Blick ins Land der Kolossalgemälde. Der Abstieg durch die Ebenen mit Sicht soll gewähren: „Aussicht, Anblick, Durchblick und Überblick“, alle Exponate setzen sich mit allen Exponaten ins Gespräch, das der Besucher führt, und so wird der große Diskurs gemacht.

Doch ist dieser Raum nicht mehr als ein Trümmerhaufen: der Schuttberg des 19. Jahrhunderts, auf dem auseinandergerissene und übereinandergeworfene Teile einer Explosion liegen, denen man nur noch die Tatsache der Explosion ansehen kann. Der Abstieg durch diesen Berg hindurch auf den Boden zu führt an Geschichtssplittern vorbei, die sich gegenseitig widersprechen. „Das ist ein Kaleidoskop“, sagt Podrecca, ein Bild, hofft man, das keine alles beherrschende Interpretation des 19. Jahrhunderts mehr zuläßt, eine Versuchsbohrung in der geologischen Formation, deren aneinandergelegte Funde keine Landkarte ergeben. Der Abstieg geht ins Dunkle, in das hinein Zeichen einer verlorenen Zeit irrlichtern.

Doch dieser Abstieg ins anarchische Chaos der Mächtigen ist nicht das Ende, sondern der Anfang der Ausstellung. Aus dem Lichthof hinaus geht es in die angrenzenden Räume, es geht heraus aus der Zersplitterung, dem geschichtlichen Wirrwarr mit der Unmöglichkeit der Identifizierung, und hin auf den Ariadnefaden, der uns aus dem Labyrinth hinausfinden hilft; und das ist die Biographie Bismarcks, die ordnende Tabelle von Geburt, Kindheit, Jugend, Reife, Alter und Tod. Es ist diese Inszenierung von Abstieg, Chaos zur Ordnung, die Geschichte wieder lesbar macht als eine, die von Männern gemacht wird, wenn allein deren Biographie noch Zusammenhänge stiften kann.

Freilich kann heute niemand mehr so einfach dahinsagen: Männer machen Geschichte. Wie die Geschichte steckt der einzelne in ihr voller Brüche und niemand, der sagen wollte, daß irgendein Mensch die gesellschaftlichen Prozesse aus seinem Willen gestalten könnte. Doch ist es der große Wurf von Bismarck, Preußen, Deutschland und Europa, daß dort verstanden wird, gerade in die Zersplitterungen hinein als letzten Rettungsanker das Subjekt Reichskanzler, den Mann der Geschichte zu setzen: ebenso voller Widersprüche, aber mit Biographie.

Und diese Inszenierung ist eine Wiedergeburtsphantasie: Abstieg, Chaos, Ordnung, wer zum Licht will, muß durch die Hölle gehen, zu Fuß, so erreicht man die Sterne. Der Mensch des 20. Jahrhunderts steigt hinab in das 19. Und trifft auf das Chaos geschichtlicher Fakten und Daten, um zu seiner Zeit hin zu streben, und wird wachgeküßt von Otto von Bismarcks Lebenslauf. Hineingeschaut in den Spiegel der Geschichte, zurück blickt Otto von Bismarck. Und wenn man lange genug schaut, wird man schließlich doch zum Kanzler seines eigenen Lebens.

Volker Heise